Auch Sportler mussten unter den Nationalsozialisten leiden

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Gudensberger Autor Dr. Dieter Vaupel legt ein neues Buch vor

Radsport im Nationalsozialismus – ein bisher vergessenes Kapitel

Cover des Buches „Radsport im Nationalsozialismus“

Dr. Dieter Vaupel aus Gudensberg, Dozent für Geschichtsdidaktik an der Universität Kassel, hat in den vergangenen Jahren immer wieder Bücher veröffentlicht, in denen er sich mit der Geschichte jüdischen Lebens in Nordhessen auseinandergesetzt hat. Nun hat er sich einem neuen Thema gewidmet, das sein historisches Interesse mit seinem Hobby, dem Radsport, verbindet. Der Titel seines aktuell im Verlag Die Werkstatt erschienenen Buches lautet „Radsport im Nationalsozialismus – Ein fast vergessenes Kapitel der deutschen Sportgeschichte“. Der Verlag schreibt in seiner Ankündigung, dass es sich um ein Buch handele, das den deutschen Radsport erschüttern werde.

Am 13. April 1933 schaltete sich der organisierte deutsche Radsport gleich: In vorauseilendem Gehorsam passten sich Vereine und Verbände dem Hitler-Regime an. Der Bund Deutscher Radfahrer hat seine Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus bis heute nicht aufgearbeitet, dies hat Autor Dieter Vaupel nun mit diesem Buch übernommen. Vaupel zeigt u. a., wie Vereine und Verbände zu willfährigen Erfüllungsgehilfen des NS-Staates wurden und etwa die „Großdeutschlandrundfahrt“ vom Regime ideologisch genutzt wurde. Besonderes Augenmerk richtet Vaupel dabei auf jene bekannten Radsportler, die zu Profiteuren dieser neuen Zeit wurden, aber auch auf jene, die für ihre oppositionelle Haltung große Opfer bringen mussten. Eigene Kapitel sind jüdischen Radsportlern und ausländischen Fahrern gewidmet, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden oder die – wie der italienische Tour-de-France-Sieger Gino Bartali – im Widerstand gegen das Dritte Reich aktiv waren.

Ein großes Lob hat Vaupel für sein Werk bereits von Prof. Dr. Lorenz Peiffer erhalten, dem wohl renomiertesten deutschen Sporthistoriker: „Mit seiner Arbeit betritt Dieter Vaupel wissenscha­fliches Neuland. Seine Arbeit ist von großer Bedeutung.“ Und die Radsportzeitschrift TOUR schreibt: „Das Buch gibt einen guten Überblick über den Radsport und seine politische Manipulation in der NS-Zeit. Es erinnert nicht nur an die Skrupellosigkeit, sondern auch den Größenwahn Deutschlands. Ein wichtiges Buch, in dem Geschichtsinteressierte viel Neues erfahren werden.“

Dieter Vaupel Radsport im Nationalsozialismus. Ein fast vergessenes Kapitel der deutschen Sportgeschichte. Göttingen: Die Werklstatt 2023. 208 Seiten, Hardcover, zahlreiche Illustrationen, ISBN 978-3-7307-0655-8, 29,90 €


Nachfolgend das Interview des SPIEGELS mit Herrn Dr. VAUPEL mit freundlicher Genehmigung des Interviewten


SPIEGEL: Herr Vaupel, zum Start der Tour de France werden die Radsportfans wieder millionenfach nach Frankreich schauen. Dass dieser Sport im Nationalsozialismus seine dunkle Seite hatte, wissen allerdings nur wenige.

Dieter Vaupel, hier mit dem Rennrad bei einem Radmarathon unterwegs, ist nicht nur Historiker, sondern auch selbst begeisterter Radsportler und ehrenamtlich bei der MT Melsungen engagiert.

Vaupel: Ja, es ist eine absolute Lücke in der Sportgeschichte, wie ich festgestellt habe.

SPIEGEL: Wie sind Sie auf diese Lücke gestoßen?

Vaupel: Im Prinzip sind zwei meiner Interessen zusammengekommen. Ich habe mich mein ganzes Berufsleben mit Fragen der NS-Aufarbeitung beschäftigt. Und ich bin seit Jahrzehnten begeisterter Radsportler. Aber mein eigentliches Interesse geweckt hat die Deutschlandtour 2021.

SPIEGEL: Warum?

Vaupel: Die Veranstalter planten damals eine Bergwertung am Ettersberg auf dem Gelände des ehemaligen KZ Buchenwald. Nach Protesten wurde dieses unglückliche Vorhaben kurzfristig geändert, aber damals dachte ich: Du musst versuchen, ein bisschen Licht in das Dunkel zu bringen. Weil man an dem Beispiel gut sehen konnte, wie sehr das Gespür für dieses Thema fehlt.

SPIEGEL: Wahrscheinlich war die Aktion gut gemeint.

Vaupel: Es mangelt komplett an der Sensibilität für Erinnerungskultur. Die Veranstalter sind dermaßen mit der Organisation des Sportbetriebes beschäftigt, dermaßen damit voll, nach vorne zu schauen. Aber der Blick zurück, der fehlt ihnen dann. Immerhin hat die Debatte danach tatsächlich etwas in Gang gesetzt. Es gab eine Ausstellung über Sportlerinnen und Sportler, die im Lager inhaftiert waren.

SPIEGEL: Wenn man an den Sport im Nationalsozialismus denkt, denke zumindest ich nicht zuerst an Radsport. Eher an Max Schmeling und die Leni-Riefenstahl-Spiele von Berlin 1936.

Vaupel: Radsport war im Nationalsozialismus ungemein populär. Bei der Deutschlandtour, die es ab 1937 wieder gab, standen Hunderttausende an den Straßen, im Olympiastadion versammelten sich 80.000 Menschen. Es gab gefeierte Figuren wie den Bahnrad-Olympiasieger von 1936, Toni Merkens, oder Gustav Kilian. Gerade Kilian hat diesen Heldenmythos auch in die Nachkriegszeit überführen können, als Fahrer, aber auch später als Trainer, der Olympiasiege auf der Bahn, vor allem mit dem Bahn-Vierer gefeiert hat. Und der nach 1945 in der Bundesrepublik völlig unkritisch gesehen wurde.

SPIEGEL: Ich erinnere mich auch selbst noch gut daran, wie Kilian in den Siebzigerjahren als Wundertrainer gefeiert wurde.

Vaupel: Kilian war Parteimitglied seit 1937, er wurde von den Nazis hofiert. Er suchte aber auch selbst die Nähe zu den Nazi-Größen, ist von ihnen gefeiert worden als »unser Mann in den USA«, wo er seine größten Erfolge auf der Bahn errungen hatte.

SPIEGEL: Und das wurde nach dem Krieg nicht thematisiert?

Vaupel: Auch nach 1945 war Kilian ein Held. Albert Richter hingegen, der sich als Bahnradweltmeister den Nazis konsequent verweigert hatte und dies mit seinem Leben bezahlte, war im Westen kaum bekannt, er wurde dafür in der DDR gefeiert. Ich war selbst über mich schockiert, dass ich von Richter erst vor gut zehn Jahren zum ersten Mal gehört habe.

Aber so war es eben im Nachkriegsdeutschland im Westen: Da hat man sich lieber an einem glattgebügelten Mitläufer wie Toni Merkens orientiert als an einem widerständigen Albert Richter. Merkens stand einem näher. Es passte in diese Gesellschaft des großen Beschweigens, in der Nazis plötzlich zu Mitläufern und Unbeteiligten an den Verbrechen umgedeutet wurden.

SPIEGEL: Und wie ist Kilian selbst nach 1945 mit seiner NS-Rolle umgegangen?

Vaupel: Er hat sich selbst Jahrzehnte später völlig unreflektiert geäußert. So schreibt er noch 1978 ganz naiv darüber, wie er 1940 den Eindruck in den USA hatte, dass die »Hetze gegen Deutschland« so zugenommen hatte. Zudem hat auch er nach 1945 den Grundgedanken gepflegt: Wir haben ja nur Sport gemacht.

SPIEGEL: Der Klassiker vom unpolitischen Sport.

Vaupel: Genau. Dabei war gerade der Radsport nie unpolitisch. 1933 gehörte er zu den ersten Sportverbänden, die von sich aus den Ausschluss der Juden aus dem Verband forciert haben. Man hat sich im vorauseilenden Gehorsam angebiedert. Ohne Not sogar, denn bis 1936 waren die Nazis, was den Sport angeht, eher noch zurückhaltend. Weil man die Austragung der Olympischen Spiele in Berlin nicht gefährden wollte.

SPIEGEL: Gab es denn niemanden, der dagegen opponierte?

Vaupel: Es gab Einzelne wie Albert Richter, der 1940 im Gefängnis vermutlich von der Gestapo ermordet wurde. Aber man muss in diesem Zusammenhang auch an die Rolle der Arbeitersportverbände im Radsport bis 1933 erinnern. Sie waren bis dahin die größten Radsportverbände des Landes. Viele, die sich dort engagiert hatten, wurden später inhaftiert, ermordet, und bei ihrem frühen Ausschluss aus dem Radsport hat der bürgerliche Sport eine aktive Rolle gespielt. Man darf auch nicht vergessen, dass der Radsportverband über Jahre von Viktor Brack geleitet wurde – der 1948 als Nazi-Kriegsverbrecher hingerichtet worden ist.

SPIEGEL: Das klingt so, als ob der Radsport selbst im Vergleich mit anderen Sportarten besonders linientreu war.

Vaupel: Die Turner waren auch ganz vorne mit dabei, aber der Radsport hat schon im April 1933 die Gleichschaltung der Verbände verkündet, das wurde gnadenlos umgesetzt. Bei den großen Rennen wie Rund um Köln dominierten dann schon sehr früh die Uniformierten, die in die Organisation eingebunden waren. Es gab später ja sogar eigene Rennen Polizei gegen Wehrmacht.

SPIEGEL: Es gab damals auch schon die populären Sechstagerennen. Haben die Nazis die auch für ihre Zwecke genutzt?

Vaupel: Im Gegenteil. Die Nazis hatten ein großes Misstrauen gegenüber den Sechstagerennen, was vor allem daran lag, dass man den Profisport ohnehin ablehnte. Man brauchte zudem die großen Hallen für die eigenen Propagandaveranstaltungen, den Sportpalast in Berlin zum Beispiel. Außerdem kamen viele Stars aus dem Ausland nach 1933 nicht mehr, die Rennen wurden unattraktiver, schon ab 1934 fanden sie gar nicht mehr statt.

SPIEGEL: Was waren denn dann die großen Radsport-Veranstaltungen, die die Nazis für die Propaganda einsetzten?

Vaupel: Stattdessen setzte man vor allem auf die Straße, die Deutschlandtour betrachteten die Nazis sogar als Konkurrenz zur Tour de France. 1939 machte man sie zur Großdeutschlandtour, man fuhr unter anderem durch Österreich, erweiterte sie auf imposante 5000 Kilometer Gesamtstrecke. Schon um zu zeigen, »wer wir sind«.

SPIEGEL: All das würde sich doch bestens zur Aufarbeitung eignen. Warum ist der Bund Deutscher Radfahrer dort so zögerlich?

Vauoel: Warum der BDR sich bis heute mit dem Thema so schwertut, kann ich mir so richtig auch nicht erklären. Genauso wenig, ob es ein aktiver Prozess des Nicht-Erinnern-Wollens ist.

SPIEGEL: Was ist Ihre Hypothese?

Vaupel: In jedem Fall scheint mir beim Verband ein Desinteresse an dem Thema zu herrschen. Man möchte offensichtlich nicht damit konfrontiert werden. Fast könnte man denken, das Thema sei ihnen peinlich. Ich verstehe auch die Rolle des BDR-Präsidenten Rudolf Scharping nicht, eines ehemaligen SPD-Vorsitzenden, der ja in der Tradition von Sozialdemokraten wie Otto Wels steht. Des SPD-Vorsitzenden, der sich 1933 in seiner berühmten Rede gegen das Ermächtigungsgesetz der Nazis stellte.

SPIEGEL: Geben Sie dem Verband noch eine Chance, sich dem Thema zu widmen?

Vaupel: Im November nächsten Jahres jährt sich die Wiedergründung nach dem Krieg zum 75. Mal. Das wäre eine schöne Gelegenheit, auf die unselige Vergangenheit einzugehen: vielleicht eine Ausstellung oder ein aktives Projekt zur Demokratieförderung. Es wäre ein Signal: Wir stehen zu unserer Geschichte. Ich habe dem Verband bereits angeboten, dann einen Vortrag zu halten. Aber eine Antwort habe ich nicht erhalten.

SPIEGEL: Das 75-jährige Jubiläum feiert bereits in diesem Jahr der letzte Tour-de-France-Sieg der italienischen Radsportlegende Gino Bartali. Als Sportler war er weltweit berühmt, dass er Widerstandskämpfer gegen die Nazis war, ist dagegen viel weniger bekannt.

Vaupel: Da haben wir es wieder. Gino Bartali war nicht nur einer der ganz Großen des Radsports, er hat auch aktiv Juden vor den Nazis versteckt, Dokumente für die Widerstandsbewegung in Italien über Tausende von Kilometern mit dem Rad transportiert. Er wäre auch ein leuchtendes Vorbild für Deutschland – wenn man aktiver an ihn erinnern würde. Es gibt seit Längerem ein Buch über Bartali, aber eine deutsche Übersetzung gibt es bis heute nicht.

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