Der Autor H. Joseph Fleming ist ein profunder Kenner Russlands, seines Militärs sowie der russischen Verteidigungspolitik und bietet gern Perspektiven an, die so im Westen nicht gern veröffentlicht werden.
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Ich, der jahrelang in Moskau gelebt und in Kiew gearbeitet hat, der immer noch über echte, freundschaftliche Kontakte in viele postsowjetische Staaten verfügt, fühle mich in der aktuellen Situation aufgerufen, etwas zur „Nationalen Frage Russlands“ zu schreiben.
Beginnen wir mit der Rede Putins und seinem Artikel, wo er sich aktuell „zur ukrainischen Frage“ geäussert hat. Der russische Präsident sagte, dass „die Ukraine von Lenin geschaffen wurde“. Die Wahrheit ist, dass Lenin und die Oktoberrevolution eine grosse Rolle bei der Befreiung der vom zaristischen Russland unterdrückten Nationen spielte. Lenin nannte das Zarenreich „Gefängnis der Völker“. Dies sollte nun durch einen neuen, einen sozialistischen Staat geändert werden. Aber wie ging es weiter und welche Nationalitätenprobleme hat Russland ‒ exakter die Russische Föderation ‒ heute?
Russland hat sich historisch als multinationaler Staat entwickelt, und deshalb hat die nationale Frage immer scharfe Streitigkeiten in ihm verursacht. Dies unterscheidet Russland von Nationalstaaten, die aus einem Volk mit einer dominanten Nationalität bestehen.
Was waren die Grundbedingungen, die bei Bildung des sowjetischen Vielvölkerstaates angenommen wurden? Die marxistisch-leninistische Theorie ging davon aus, dass die nationalen Unterschiede nur noch in der Kultur der Nationalitäten sichtbar sein würden. Nationale oder ethnische Merkmale wurden bewusst zurückgestellt, denn es sollte eine neue, sowjetische Identität ‒ der Sowjetbürger ‒ geschaffen werden.
Die Sowjetunion ist ein von Russen geschaffener Staat, aber eine Definition des „Russischseins“ umfasst keinen einzelnen Ethnos, sondern eine Vielzahl ethnischer Gruppen. Mit der Gründung der Sowjetunion sahen sich die Bolschewiki, die durch die Oktoberrevolution an die Macht gekommen waren, mit tausenden neuen Herausforderungen und echten Problemen konfrontiert. Obwohl Lenin sich mit der nationalen Frage zeitnah beschäftigte[1] blieb es lange Zeit bei theoretischen Betrachtungen der Nationalitätenfrage in der Sowjetunion. Mit der „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ war ein Schmelztiegel entstanden, in dem viele verschiedene nationale Ethnien ihre Heimat finden sollten. Aber die Verwandlung der Bevölkerung der Sowjetunion in eine Nation wurde nie als eine notwendige Politik angesehen. Der ganze Schwerpunkt sowjetischer Nationalitätenpolitik lag auf der Entwicklung von einer Loyalität eng zusammenlebender Völker gegenüber der bestehenden russischen Staatlichkeit, in welcher Form auch immer sie sich darstellte ‒ als Union, als Unionsrepublik, Autonomen Gebieten bis zu Autonomen Städten. Insgesamt gab es in der UdSSR 85 solcher Gebietskörperschaften.
Laut Lenin sollte der Sowjetföderalismus so angelegt sein, dass die einzelnen Nationen sich innerhalb der Sowjetunion frei entfalten können. Alle drei Verfassungen der Sowjetunion aus den Jahren 1924, 1936 und 1977 gaben deshalb den Unionsrepubliken formell das Recht, die Union zu verlassen. Diese Paragrafen waren jedoch lediglich deklaratorischer Natur, da Unabhängigkeitsbestrebungen jedweder Art unter Strafe gestellt waren. Die Selbständigkeit der den Unionsrepubliken untergeordneten Gebietskörperschaften beschränkte sich deshalb nur auf den kulturellen Bereich. Überhaupt konnte von einem wahren Föderalismus keine Rede sein. Die administrativen Strukturen waren der Zentralgewalt im Kreml nicht bei-, sondern untergeordnet. Dominiert wurde das System zudem von der zentralistisch organisierten KPdSU sowie von Vorgaben der zentralen Planwirtschaft.
Auch vertrat die offizielle sowjetische Politik die unhaltbare Ansicht einer eindeutigen Abgrenzbarkeit von ethno-kulturellen Räumen. Das stand im Gegensatz zu der Gesetzmässigkeit, dass die Anerkennung einer Volksgruppe als Nation das Vorhandensein eines eigenen Territoriums voraussetzt. Aber bereits bei Gründung der Sowjetunion war es praktisch unmöglich, die einander widersprüchlichen Territorialforderungen einzelner Nationalitäten miteinander in Einklang zu bringen. Daraus ergab sich objektiv die Notwendigkeit, die Interessen einzelner Nationalitätengruppen zu beschränken bzw. ganz zu ignorieren. Dieser Territorialbezug erlaubte den direkten Eingriff in die Beschaffenheit einer Nation, was unter Stalin in den Deportationen von Tschetschenen, Kalmücken, Krim-Tataren und Deutschen nach Zentralasien und Sibirien einen traurigen Höhepunkt fand. Diese autoritäre Politik barg in sich jedoch zugleich den Keim für spätere Nationalitätenkonflikte.
Heute kann man nachweisen, dass ein bereits mit Gründung der Sowjetunion bestehender Nationalismus nie abgebaut wurde. Er wirkte als Brandbeschleuniger in dem Moment, wo der Prozess des Systemniedergangs begann und sichtbar wurde. Denn für die nationalen Machteliten stellte der Nationalismus ein Instrument zur Besitzstandswahrung dar. Gleichzeitig versprach er der Bevölkerung eine Alternative zum bisher herrschenden Sowjetsystem. Deshalb kann mit Recht argumentiert werden, dass die Existenz von Nationen den Niedergang der Sowjetunion beschleunigt hat. Die vorhandenen Nationalitäten boten eine Perspektive für einen politischen Neubeginn in den entsprechenden Regionen.
Die beiden Voraussetzungen für das Funktionieren des Sowjetföderalismus, die Demobilisierung der indigenen Gesellschaft und die Garantie hierarchischer Disziplin, fielen seit 1985 durch die von Gorbatschow verkündete Politik von Glasnost und Perestroika endgültig weg. Plötzlich wurden die noch nicht gelösten Nationalitätenkonflikte deutlich sichtbar. Gorbatschows Politik verstärkte die Eigenständigkeit der nationalen Eliten, die nun offen nationalistische Themen für ihre politischen Ziele benutzen konnten. Das Prinzip „Öffentlichkeit“ bedingte, dass zentrale Entscheidungsprozesse durch die Artikulation einer Vielzahl divergierender Interessen ‒ unter anderem in ethnischem Gewande ‒ äusserst kompliziert und konfliktreich wurden. Eine Endlösung blieb auch unter Gorbatschow aus. Diese Ineffizienz des Machtzentrums in Moskau bestärkte die regionalen Eliten darin, die geltende Ordnung immer offener in Frage zu stellen. Angesichts der allgemeinen Krise und unter den Bedingungen neuer politischer Handlungsmöglichkeiten, war es ihnen möglich, durch die Verkündung politischer Alternativen den Zuspruch ihrer Bevölkerung zu gewinnen.
Offensichtlich wurden durch Gorbatschow jedoch die Eigendynamiken nationalistischer Identifikationsprozesse und ihre Instrumentalisierung durch die nationalen Eliten nicht erkannt und somit ignoriert. Die nationalen Eliten verknüpften die Forderungen nach Erweiterung wirtschafts- und haushaltspolitischer Souveränität damit, in ihren Sowjetrepubliken oder Autonomen Gebieten den völligen Bruch mit der bestehenden sowjetischen staatlichen Ordnung zu verbinden. Das wurde als erstes besonders deutlich in den baltischen Republiken.
Die Nationalitätenpolitik unter Gorbatschow trat eine Flucht nach vorn an, indem der Widerstand der Regionen durch weitgehende Zugeständnisse besänftigt werden sollte. Als aber die politische Elite der Sowjetunion unter Gorbatschow den Republiken, die meist identisch mit den Nationalitäten waren, am Rande des Sowjetstaates mehr Freiheiten einräumte, brachen überall, häufig unerwartet unbewältigte Nationalitätenkonflikte auf. Es kam zu einem rasanten Anstieg der Zahl ethno-territorialer Konflikte, der sich auch nach der Gründung der GUS fortsetzte. Im März 1991 wurden 76 solcher Konflikte gezählt. Ende desselben Jahres waren es schon 156 Streitigkeiten, die sowohl Territorialansprüche als auch Autonomie- und Sezessionsbestrebungen einschlossen. Im März 1992 wurden auf dem Gebiet der GUS 180 Nationalitätenkonflikte registriert.
Bereits am 9. April 1989 wurde in Tbilissi eine georgische Demonstration gegen den abchasischen Separatismus gewaltsam aufgelöst, zwanzig Personen verloren dabei ihr Leben. In den baltischen Staaten galt die Sowjetherrschaft seit 1944 als russische Besatzung. Im Frühjahr 1990 verstärkten Estland, Lettland und Litauen ihre Unabhängigkeitsbestrebungen und unterminierten damit die Autorität der Sowjetunion wohlwissend, dass in ihren Ländern die Zahl der gebürtigen Russen sehr hoch war. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Nagorni Karabach eskalierte, auf beiden Seiten kam es zu Pogromen. Die Ukraine führte am 1. Dezember 1991 ein Referendum über die Unabhängigkeitserklärung durch. Es wurde mit 92 % angenommen, der Donbass stimmte mit 83 % zu, selbst auf der Krim wurden noch 54 % Ja-Stimmen erreicht.
1989 wurde auf einer Tagung des Zentralkomitees der KPdSU postuliert, dass es „ohne eine starke Union auch keine starken Republiken“ geben kann. Die meisten Teilrepubliken hegten aber nach dem Augustputsch 1991 keinen Wunsch mehr, in einer zentralistisch geführten Sowjetunion zu verbleiben. Somit war das Ende der „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ besiegelt. Es bleibt also festzuhalten, dass die Sowjetunion nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen scheiterte. Dazu beigetragen hat auch eine krisenanfällige, komplexe und ungelöste Nationalitätenfrage, die allerdings in vielen postsowjetischen Staaten bis heute überlebt hat, was an vielen Beispielen nachzuweisen ist.
Denn der Versuch der Herausbildung eines Super-Ethnos ‒ der Sowjetbürger ‒ durch Assimilation hat automatisch einen Gegenprozess des Widerstands gegen diese Assimilation hervorgerufen. Verbunden damit war die Herausbildung eines defensiven Nationalismus, der ethnische Gruppen vor Erosion schützen sollte. Das ist an vielen Beispielen in verschiedenen postsowjetischen Staaten nachweisbar. Auch in der Ukraine, wo echte revanchistische und nationalistische Tendenzen immer unterschwellig existierten, aber nun an die Oberfläche durchbrechen. Man sollte bei einer Beurteilung dieser Entwicklung eines nicht vergessen, nämlich dass der alte Nationalitätenkonflikt zwischen Ukrainern und Russen neue Strukturen echter nationalistischer Strömungen bis hin zu Neo-Nazi-Organisationen hervorgebracht haben. Auch oder gerade in dem nun geführten „Verteidigungskrieg der Ukrainer gegen die alten ‚Unterdrücker‘ ‒ die Russen“ wird dies deutlich.
Wie konnte es in der Ukraine dazu kommen und wieso bildete sich mit den Separatisten in der Donetsker und Lugansker Volksrepubliken ein neuer, diesmal ukrainischer Nationalitätenkonflikt heraus?
Mit dem Ende der Sowjetunion und der Erlangung der ukrainischen Souveränität tauschten in der Ukraine die Titularnation ‒ die Russen ‒ ihren Status mit den einer Minderheitennation. Und das nicht in einem längeren Prozess, sondern von einem Tag zum anderen. Das Problem aller multiethnischen Staaten besteht immer darin, dass sie nach einer einigenden Idee für ihre Völker suchen müssen und dabei den Nationalismus der Titularnation ‒ nun schon die Ukrainer ‒ als auch die Nationalismen subethnischer Gruppen ‒ hier die Russen ‒ bekämpfen. Das Besondere dabei in der Ukraine ist, dass der Kampf gegen den Nationalismus der russischen Minderheit zum Separatismus in den Lugansker und Donetsker Volksrepubliken geführt hat. Diese Unterdrückung der Russen soll jedoch nicht wie eine nationale Unterdrückung durch eine grosse ukrainische Nation aussehen. Jede Macht findet sich hier unweigerlich zwischen dem Hammer der Nationalisten der Titularnation und dem Amboss der Nationalisten der nationalen Minderheiten wieder. Es ist unmöglich, als Staat beiden gleichzeitig zu gefallen. Und genau das erleben wir aktuell in der Ukraine im Konflikt zwischen Kiew und den Separatisten von Lugansk und Donetsk in dem sich nun noch Russland eingemischt hat.
Die Sensibilität für die nationale Komponente in der Politik und den Eliten der Ukraine wird in Zeiten der Krise der Staatsidee schmerzhaft sichtbar. In diesem Moment kommen die Geister des nationalen Separatismus und der Konfrontation, die vorerst schliefen, aus ihren Höhlen. Unnötig zu betonen, dass diese Prozesse von geopolitischen Feinden und Gegnern immer genau überwacht, wenn möglich angeheizt und letztendlich für ihre Zwecke genutzt werden.
[1] siehe Lenin „Brief an die Arbeiter und Bauern der Ukraine zum Sieg über Denikin“ und „Über das Selbstbestimmungsrecht der Völker“ ‒ Dokumente, die Lenin bereits während seiner Verbannung 1914 geschrieben hat.
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Auch von Herrn Fleming:
Gastbeitrag: Der deutsche Bundeskanzler zwischen den Fronten – (nordhessen-journal.de)
Gastautor: Russlands militärische Macht – (nordhessen-journal.de)
Gastautor: Die „ukrainische Frage“ und der Krieg – (nordhessen-journal.de)
Ukraine im Krieg: Lage am 25.02.2022 – (nordhessen-journal.de)
und:
Ukrainian Agony – Der verschwiegene Krieg – (nordhessen-journal.de)
Webcams aus Kiew – (nordhessen-journal.de)
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