Gastautor: Die „ukrainische Frage“ und der Krieg

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Der Autor H. Joseph Fleming ist ein profunder Kenner Russlands, seines Militärs sowie der russischen Verteidigungspolitik und bietet gern Perspektiven an, die so im Westen nicht gern veröffentlicht werden.

 

Von unserem Gastautor Fleming zur aktuellen Lage:

Nun ist eingetreten, was viele befürchtet, aber auch viele für als „nicht möglich“ gehalten haben. Die russische Armee hat eine militärische Operation gegen die Ukraine begonnen, die durchweg das Zeug hat, weiter zu eskalieren und einen Weltkrieg auszulösen. Gefragt ist ein kühler Kopf und kluges Handeln ‒ wohlgemerkt nicht nur von Putin, sondern auch von Biden und anderen Politikern des Westens.

Ich möchte versuchen ‒ ohne westlicher oder russischer Propaganda zu folgen ‒, eine erste Einschätzung zu den Hintergründen und möglichen Konsequenzen dieses Konfliktes zu geben.

Kurz zur militärischen Lage. Am Morgen des 24. Februar sagte der russische Präsident Wladimir Putin in einer Fernsehansprache, dass eine spezielle Militäroperation im Donbass durchgeführt werde, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Das Staatsoberhaupt betonte, dass Russland keine andere Wahl habe und seine Handlungen nicht mit der Verletzung der Interessen der Ukraine verbunden sind, sondern mit dem Schutz vor „denen, die die Ukraine als Geisel genommen haben“. In seiner Antwort beschuldigte der ukrainische Präsident Selenskyj Russland, die militärische Infrastruktur anzugreifen, und kündigte die Einführung des Kriegsrechts im ganzen Land an. Gleichzeitig erklärte das russische Verteidigungsministerium, dass die russische Armee keine Luft-, Raketen- oder Artillerieangriffe auf die Städte der Ukraine verübt habe.

Wie der erste stellvertretende Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der russischen Staatsduma, Andrei Krasov, in einem Interview mit der Iswestija feststellt, skizzierte der russische Präsident die Ziele der Militäroperation. Es gibt keinen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Die Operation wird durchgeführt, um das Leben und die Gesundheit der Bewohner der DVR und LPR zu erhalten. Der Ständige Vertreter der Russischen Föderation bei den Vereinten Nationen, Vassily Nebenzia, betonte auch, dass die Ereignisse in der Ukraine nicht als Krieg bezeichnet werden können, da es sich um eine besondere militärische Operation handelt. Er hob besonders hervor, dass die russischen Behörden immer noch offen für einen Dialog sind, aber nicht beabsichtigen, ein neues Blutbad im Donbass zuzulassen. Halten wir uns nicht damit auf, denn was wirklich passiert, ist von aussen nicht zu erkennen.

Trotz gegenteiliger Behauptungen ist Putin nicht irrational und unberechenbar. Im Gegenteil, er ist ein Stratege, der sich auch als brillanter Taktiker erwiesen hat. Putin hat mit seinem Handeln vorallem eines bewirkt. Er hat die Schwächen des Westens in einer Zeit offengelegt, in der die liberale Demokratie in der Krise steckt und der Kampf um die Herausbildung einer neuen Weltordnung begonnen hat. Daran beteiligt sind vorallem, die USA mit NATO und EU hinter sich, China und Russland.

Sicherlich mag Putin der NATO und der westlichen Solidarität eine neue Chance gegeben haben, aber die USA und die EU müssen erst noch beweisen, dass sie der Herausforderung gewachsen sind. Sie haben keinen Ansatz entwickelt, der anerkennt, dass der russische Führer ein langfristiges Spiel spielt, weil sie ihn eher als Taktiker denn als Strategen einschätzen. Es ist unwahrscheinlich, dass die USA und die EU mit Sanktionen in der Lage sind, Russland daran zu hindern, gemeinsam mit China in der Auseinandersetzung mit dem Westen eine neue Weltordnung zu schaffen. Die Ukraine ist dabei eher nur eine „Nebenschauplatz“. Vielmehr wird wichtig zu beobachten, wie die USA und China ihre sehr verschiedenen Interessen im asiatisch-pazifischen Raum durchsetzen werden. Diverse Kriege sind zu erwarten.

Wenden wir uns nun der Frage zu, ob die Lösung der „ukrainischen Frage“ nur durch eine militärische Operation Russland herbeizuführen war oder gab es Möglichkeiten, auf diplomatischen Weg einen Kompromiss zu finden, der beiden Seiten ‒ USA und Russland ‒ befriedet hätte. Ich sage ganz klar und deutlich: diese Möglichkeit gab es! Der Westen hätte nur dafür Sorge tragen zu müssen, folgende Fragen zu beachten:

  1. Die vollständige Umsetzung der „Minsker Vereinbarung“, die die Ukraine verpflichtet, dem Donbass ‒ also den Donetsker und Lugansker Bezirken ‒ im Rahmen eines ukrainischen föderalen Staates Sonderrechte zu gewähren. Diese vertraglich festgeschriebene Aufgabe hat die ukrainische politische Elite ignoriert und der Westen hat es versäumt, diesbezüglich auf die Regierung in Kiew einzuwirken.
  2. Im Dezember hat Russland den USA und der NATO in zwei Dokumenten Vorschläge unterbreitet, wie Russland sich eine zukünftige europäische Sicherheitsarchitektur vorstellen könnte. Russland verlangt „Sicherheitsgarantien“ und war bereit, darüber zu verhandeln.

Selbst wenn einige Forderungen durch die USA schlicht nicht zu akzeptieren waren, so lag definitiv „verhandelbares Material“ auf dem Tisch. Aber die USA schlägt mit einer Arroganz die Hand Putins aus, indem sie in ihrer Antwort „pauschal jegliche Gespräche über die russischen Vorschläge“ ablehnt.

Der kollektive Westen hat in einer „überheblichen Art“ reagiert, indem er mit einer Hand Russland die Schuld für erfolglose diplomatische Bemühungen zuschob, mit der anderen Hand aber die Ukraine militärisch aufrüstete und Muskeln in angrenzenden NATO-Staaten spielen liess. Damit war klar, dass so eine verachtende Haltung des Westens durch Putin nicht zu akzeptieren war, wollte er nicht das Gesicht verlieren ‒ auch nicht gegenüber grossen Teilen der russischen Bevölkerung. Entsprechende „Gegenmassnahmen Russlands“ folgten.

Nun mag der kollektive Westen jetzt noch so sehr hervorheben, dass „Putin mit seinem Agieren den Westen nur noch enger zusammengeschlossen hat“. Aber auch hierin kann man sich irren, denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Staaten der EU vor den Gegenmassnahmen der Russischen Föderation einbrechen und die „Einheit des Westen“ zu bröckeln beginnt.

Nun ein Wort zu den Sanktionen. Der seit 2014 andauernde Konflikt im Donbass und die darauf folgenden Sanktionen der USA und der EU gegen Russland haben nur die gegenseitige Feindseligkeit verschärft und die europäische Ordnung weiter untergraben. Mit der Anerkennung der abtrünnigen ukrainischen Republiken hat Putin gezeigt, dass er sich nicht um die Sanktionen der USA und der EU schert. Russland hat rund 600 Milliarden US-Dollar an Reserven angehäuft und den in Dollar abzuwickelnden Handel auf 50 % reduziert. Wirtschaftliche Sanktionen, so schmerzhaft sie auch sein mögen, haben sich bisher als unwirksam erwiesen, wenn es darum geht, eine bestimmte Politik, wenn nicht gar einen Regimewechsel zu erzwingen. Nehmen wir zum Beispiel den Iran. Bislang haben harte Sanktionen die islamische Republik nicht in die Knie gezwungen, und Russland ist heute besser in der Lage, die Auswirkungen von Strafmassnahmen aufzufangen, denen die Russische Föderation ja schon seit acht Jahren ausgesetzt ist.

Der Erfolg jeder auf Sanktionen basierenden Strategie des Westens wird von der Bereitschaft der Europäer abhängen, wirtschaftliche Opfer zu bringen und diese auch zu ertragen. Denn es dürften in der jetzigen Situation Gegenmassnahmen Russlands zu erwarten sein, die den Westen hart treffen können. Da spreche ich nicht nur von einer möglichen vollständigen Einstellung der Versorgung Westeuropas mit russischem Öl und Gas, was auch die Bevölkerung schwer treffen würde. Auch die Blockierung von „Nord Stream 2“ ist für Russland kein wirkliches Problem, denn das wurde von Russland erwartet. Es ist inzwischen Fakt, dass Russland sich seit Jahren bereits von Westeuropa abgewendet und dem „Osten zugewendet“ hat, was unter anderem durch eine neue Gaspipeline nach China zu beweisen ist.

Es sind aber seitens Russlands noch ganz andere Sanktionen zu erwarten. Die russische Staatsduma hat mit einem Gesetz dem russischen Präsidenten pauschal erlaubt, „Militär im Ausland“ einzusetzen. Heute noch wird dieses Gesetz durch die Medien des Westens falsch beurteilt, denn man bezieht es nur und ausschliesslich auf die Ukraine. Aber der Stratege Putin hat schon viel weiter gedacht, denn als Gegenmassnahmen Russlands ist die Errichtung von russischen Militärstützpunkten unmittelbar in der Nähe der USA ‒ in Kuba, Nikaragua und Venezuela ‒ zu erwarten. Wenn noch russische Atom-U-Boote vor der Ost- und Westküste der USA kreuzen, spätesten dann sollten die US-amerikanischen Politiker doch besser wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren. Ein erster Handschlag des Westens gegenüber Putin wäre die Bereitschaft, auch über eine „neutrale Zone“ entlang der Grenze zwischen NATO und Russland zu verhandeln.

Wie weiter? Solange wie die USA, NATO und EU sich kein Stück auf Russland zubewegen, solange wird Russland und ihr Präsident die „ukrainische Karte“ weiter spiele. Die Folgen können dramatische Auswirkungen auf alle beteiligten Seiten ‒ also auch auf USA und EU ‒ haben. Betroffen von solch einer Zuspitzung eines „neuen Kalten Krieges“ in der Welt werden allerdings die Bevölkerungen und nicht die politischen Eliten sein.

 

 

 

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