Die Türkei steht vor einer Schicksalswahl

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Nach der Rückkehr aus Ankara blickt die hessische Europaministerin ohne große Zuversicht auf den 24. Juni – Politische Lage im Land hat sich weiter verschlechtert

Nach Einschätzung der hessischen Europaministerin Lucia Puttrich hat sich die politische Lage in der Türkei seit ihrem letzten Besuch im Oktober 2017 weiter verschlechtert. Ein EU-Beitritt in absehbarer Zeit sei deshalb noch weniger vorstellbar, sagt sie nach der Rückkehr von einer mehrtägigen Delegationsreise nach Ankara. Unabhängig davon, ob die Türkei jemals Teil der Europäischen Union werde, müsse aber eine Perspektive entwickelt werden, wie die Beziehungen zwischen der Türkei, Europa und insbesondere Deutschland aussehen könnten. „Die Türkei hat dann selbst in der Hand, wohin die Reise geht“, sagt Puttrich. Sie sieht hinsichtlich der EU-Mitgliedschaft keinen Spielraum: „Wer einem Club beitreten will, muss die Regeln akzeptieren.“

„Die Türkei ist auf dem Weg zum Unrechtsstaat“

Gemeinsam mit Abgeordneten des Hessischen Landtags hat die Ministerin in dieser Woche in der türkischen Hauptstadt Gespräche mit Vertretern politischer Parteien, deutschen und internationalen Einrichtungen, Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft geführt. „Die Regierung hat zwar verbal abgerüstet. Um Demokratie, unabhängige Justiz, Menschenrechte und Meinungsfreiheit ist es aber nach dem, was wir erfahren haben, schlecht bestellt. Nichtregierungsorganisationen berichten von zunehmenden Repressionen, der Vorwurf der Terrorpropaganda ist ein gern genutzter Vorwand. Die Türkei ist auf dem Weg zum Unrechtsstaat“, fasst Puttrich zusammen. Dem Wunsch nach Normalisierung der Beziehungen zu Deutschland und Europa, den sie über Parteigrenzen hinweg bei ihren politischen Gesprächspartnern gehört habe, folgten keine Taten.

Puttrich bezeichnet die Präsidenten- und Parlamentswahlen am 24. Juni als Schicksalswahl, ist aber wenig zuversichtlich: „Die werden in keinem Fall fair sein, selbst wenn es nicht zu Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe kommt. Sie finden unter den Bedingungen des Ausnahmezustands statt. Staatspräsident Erdogan und seine AKP haben die Medien fest im Griff und sind auf allen Kanälen permanent präsent. Die anderen Parteien und Kandidaten werden praktisch totgeschwiegen.“ Puttrich fordert den Einsatz von möglichst vielen Wahlbeobachtern, um den Ablauf des Urnengangs zu dokumentieren.

„Es gibt keine Alternative zum Dialog“

Unabhängig vom Ausgang werde sich die politische Lage nach dem 24. Juni aber nicht verbessern, befürchtet Puttrich. Wenn Erdogan gewinne, werde er die Türkei in eine Autokratie umbauen, die mit europäischen Werten nicht kompatibel sei. Wenn er verliere, müsse die Koalition der Oppositionsparteien mit höchst unterschiedlichen Interessen erst noch beweisen, dass sie nicht nur Erdogan habe verhindern können, sondern nun auch gestalten könne.

Trotz ihrer kritischen Einschätzung der Lage hält Lucia Puttrich partnerschaftliche Beziehungen in die Türkei für unverzichtbar und wird sich deshalb auch weiter für die Regionalpartnerschaft mit der Provinz Bursa einsetzen. Deutschland und die Türkei seien so eng miteinander verflochten wie kaum zwei andere Länder. In Deutschland leben rund 3,5 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln, die Zahl der Rückkehrer aus Deutschland in die Türkei beträgt ein Mehrfaches. 300.000 Menschen in Hessen haben türkische Wurzeln. Die Ministerin erinnert außerdem daran, dass die türkische Gesellschaft tief gespalten ist. Der Ausgang des Verfassungsreferendums im vergangenen Jahr sei trotz massiver Anstrengungen der Regierung denkbar knapp gewesen. „Auch diesmal haben wir mit Menschen gesprochen, die auf Europa und seine Werte setzen“, betont die Ministerin. „Sie haben es verdient, dass wir sie nicht im Stich lassen. Außerdem gibt es keine Alternative zum Dialog.“

Die Türkei ist weltweit derzeit das größte Aufnehmerland

Bei aller berechtigten Kritik helfe zudem die in Deutschland zur Türkei weit verbreitete Schwarz-Weiß-Darstellung nicht, sagt Puttrich weiter. In einer Beratungsstelle für Flüchtlinge, die von einer unabhängigen türkischen Nichtregierungsorganisation mit deutscher Unterstützung betrieben wird, informierte sich die Ministerin über die Lage der Flüchtlinge in der Türkei. Daran schlossen sich Gespräche mit Vertretern des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) an. „Alle Gesprächspartner bestätigen, dass die Türkei eine gute Flüchtlingsarbeit leistet und die Zusammenarbeit sowohl mit den NGOs als auch mit den türkischen Behörden vernünftig funktioniert“, betont die hessische Europaministerin. Die Türkei ist weltweit derzeit das größte Aufnehmerland für Flüchtlinge, geschätzt etwa fünf Millionen Menschen haben dort Zuflucht gefunden.

In der Zusammenarbeit bei der Flüchtlingsfrage sieht die Europaministerin auch ein Beispiel dafür, wie eine Partnerschaft mit der Türkei auch ohne EU-Mitgliedschaft funktionieren kann.

 

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