20.04.2018
Holger Hansen
Berlin (Reuters) – Auf dem vierten Bundesparteitag binnen gut vier Monaten wagen die Sozialdemokraten etwas, “worin die SPD nicht so geübt ist”, sagt ihr Generalsekretär Lars Klingbeil mit einem Anflug von Humor.
Erstmals seit fast 23 Jahren haben die Genossen bei der Neuwahl des Parteivorsitzes die Wahl zwischen zwei Personen. Zuletzt war das auf dem Mannheimer Parteitag 1995 der Fall, als Oskar Lafontaine den damaligen SPD-Vorsitzenden Rudolf Scharping kurzerhand aus dem Chefsessel stieß. Beteiligt war daran auch die damalige Juso-Chefin Andrea Nahles. Auf dem Parteitag am Sonntag tritt die damals 25-Jährige nun an, nicht nur die erste Parteichefin in der 155-jährigen SPD-Geschichte zu werden, sondern auch die mächtigste Drahtzieherin in der Partei.
Doch Nahles hat eine Gegenkandidatin. Die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange, die bis zu ihrer Kandidatur über die Grenzen der nördlichsten kreisfreien Stadt hinaus kaum bekannt war, bewirbt sich ebenfalls. Sie gilt in der SPD zwar als chancenlos. Doch sie könnte Stimmen von Delegierten auf sich ziehen, die mit der Ablehnung der großen Koalition auch Misstrauen gegen die etablierte SPD-Spitze verbinden. Manch einer im Parteivorstand ist verärgert, weil Lange eine Stimmung “Wir hier unten, die da oben” geschürt habe.
Die Bewerberin aus dem Norden erweckte zudem den Eindruck, dass ihr nicht mehr als zehn Minuten zur Vorstellung auf dem Parteitag eingeräumt werden sollten. Klingbeil stellte aber klar, dass voraussichtlich beide Kandidatinnen jeweils 30 Minuten erhielten, um bei den 600 Delegierten und 45 Mitgliedern des Parteivorstandes um Stimmen zu werben. “Wenn Andrea nur 65 Prozent bekommt, dann ist das eben so”, sagt ein Mitglied der Parteispitze, das sich mehr für Nahles erhofft. Für die Stärke der Parteichefin, die Gegenspielerin und Koalitionspartnerin von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ist, spiele dies keine Rolle.
NAHLES SETZT AUF EHRLICHES ERGEBNIS
Die 47-jährige Nahles, die dann erstmals seit Franz Müntefering in den Jahren 2004/2005 Partei- und Fraktionsvorsitz der SPD in einer Hand vereinen würde, erwartet ein “ehrliches Ergebnis”. Sie wurde auf Parteitagen bisher nicht mit herausragenden Wahlergebnissen verwöhnt: Bei ihren drei Kandidaturen als Generalsekretärin in den Jahren 2009 bis 2013 erzielte sie Ergebnisse zwischen rund 67 und 73 Prozent.
Der Vorgänger im Parteivorsitz, Martin Schulz, war weniger als ein Jahr im Amt. Er wurde im März 2017 mit 100 Prozent gewählt, was im heraufziehenden Bundestagswahlkampf auch als Ausdruck der Rückenstärkung für seine Kanzlerkandidatur gewertet wurde. Nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen im Februar kündigte Schulz seinen Rückzug vom Parteivorsitz an: Im Verlauf der Verhandlungen verständigte sich die SPD-Spitze darauf, dass Nahles den Parteivorsitz übernehmen soll. Derzeit führt Finanzminister Olaf Scholz kommissarisch die Partei.
ERNEUERUNGSPROZESS WIRD EINGELEITET
Zweiter Punkt nach der Wahl der Parteivorsitzenden ist die Einleitung des Prozesses zur inhaltlichen und organisatorischen Erneuerung, die sich die SPD nach ihrem Absturz auf historisch schlechte 20,5 Prozent bei der Bundestagswahl im September verordnet hat. Vielen Delegierten dürfte dies wichtiger sein als die Neuwahl der Parteichefin. Die Parteispitze schlägt den Delegierten einen langwierigen, detaillierten Erneuerungs-Weg bis zum Parteitag Ende 2019 vor. Vier grundsätzliche Themen sollen bis dahin behandelt werden, in Impulspapieren, Debattencamps und Thesenpapieren, die auf allen Ebenen diskutiert werden sollen. Die Mitglieder sollen auch über Online-Umfragen stärker beteiligt werden. “Das ist eine Form der Befriedung der Mitglieder”, sagt ein Vertreter der Parteispitze.
Erst nach dem Parteitag wird festgelegt, wie prominent die Nachwuchsorganisation Jusos in die Erneuerung eingebunden wird. Deren Chef Kevin Kühnert erlangte als Wortführer der Gegner einer neuen großen Koalition Prominenz. Er beanspruchte nun für die Jusos den Vorsitz einer der Lenkungsgruppen der vier Themenfelder. “Ich in sehr zuversichtlich, dass das sehr positiv aufgenommen wird”, stellte Nahles in Aussicht.
Noch am Sonntagabend will Nahles personelle Entscheidungen treffen, für die die Weichen längst gestellt sind. Ihr enger Vertrauter Thorben Albrecht, zuletzt Staatssekretär im Arbeitsministerium und zuvor langjähriger Mitarbeiter im Willy-Brandt-Haus, soll vom SPD-Vorstand als neuer Bundesgeschäftsführer in der Parteizentrale bestellt werden.. Insgesamt steht der Parteizentrale wohl eine Verringerung des Personals bevor: Die Partei muss nach dem schlechten Bundestagswahlergebnis wie auch den drei verlorenen Landtagswahlen davor Geld sparen, da weniger Mittel aus der staatlichen Parteienfinanzierung in ihre Kassen fließen.
Nächste Prüfsteine für die SPD sind die Landtagswahlen in Bayern (14. Oktober) und Hessen (28. Oktober). Die Wahlkämpfer erhoffen sich Rückenwind von einem besseren Bundestrend für die SPD. In Umfragen hat sie sich zuletzt bei 18 bis 19 Prozent stabilisiert, nachdem sie im Februar auf 17 Prozent und bei Insa gar auf 15 Prozent abgerutscht war – noch hinter die AfD.
Foto: REUTERS/Fabrizio Bensch
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