Der Fachkräftemangel beherrscht das Vokabular der Wirtschaftsnachrichten. Von fehlenden Key-Ressourcen liest man. Von zu wenig Talenten und Bewerbern am Arbeitsmarkt hört man überall. Doch ist das so? Wie sieht denn die Anbieterseite aus? Ist man dort flexibel oder verharrt man geistig in den 80er, wo man freie Auswahl hatte? Ist der Mangel gar Heuchelei?
Die am Markt gesuchten Talente sollten 25 Jahre alt sein, den Doktor in der Tasche haben, aber bitte mit maxima cum laude und das nicht von einer Wald- und Wiesenuniversität, gerne mehrjährige Auslandserfahrung haben, neben Englisch auf “native”-Niveau noch mindestens eine weitere Sprache sprechen – verhandlungssicher wäre schön – einen Ordner voll Zertifikate haben, erste Führungserfahrung vorweisen können und – natürlich – voll belastbar, sozial kompetent und angepasst sein.
Man kann und darf ja hoffen, oder? Wie auf den Lottogewinn… Statistisch ist das nicht unmöglich.
Ehrlich gesagt kommt dieser Lottopersonalgewinn sogar recht häufig vor, wenn wir Genies ins Auge fassen. Da ist mit 18 der erste Doktor schon nebenher gemacht.
Stephen William Hawking ist so ein Wunderkind. Seit 1968 ist er aber auf einen Rollstuhl angewiesen. Da war er 26. Im Rahmen der Grunderkrankung (Konsekutive Progressive Bulbärparalyse) und der Behandlung einer schweren Lungenentzündung, verlor er 1985 die Fähigkeit zu sprechen.
Für die verbale Kommunikation nutzt er seitdem einen Sprachcomputer, den er mit der Bewegung seiner Augen steuert. Wäre er jetzt nicht das Genie unserer Zeit schlechthin, wäre er spätestens seit 1968 aus dem Geschäft, einen Job zu finden. 1985 hätte er auch mit Sicherheit die Hoffnung aufgegeben. Und mit rollstuhlfahrenden und per Sprachcomputer kommunizierenden Mitmenschen reden die wenigsten Personaler.
Doch bei Genies macht man die Ausnahme! – Warum?
Weil sie etwas anbieten, was man braucht. Was uns voranbringt. Erkenntnisse verschafft. Lösungen generiert. Kurz: gewinnbringend ist.
Ergo ist es nicht die Behinderung an sich, die Behinderte vom Arbeitsmarkt ausschließt, sondern der Grad der zu erwartenden Gewinnerwartung im Verhältnis zu den offensichtlichen Einschränkungen. Letztere bleiben, oder können technisch relativiert werden, wie mit dem Rollstuhl und dem Sprachcomputer. Doch die Gewinnerwartung hängt an zwei Dingen:
1.) Technische Hilfen können diese Erwartungen deutlich anheben, da sie Beeinträchtigungen nivellieren können oder ihre Wirksamkeit auf die zu leistende Arbeit soweit relativieren, dass sie nicht mehr maßgeblich sind. So können Rollstuhlfahrer in Verbindung mit einem niedrigeren Schreibtisch durchaus Bürojobs machen, in der Verwaltung arbeiten oder eine Servicehotline bedienen.
Und das auf einem wie auch immer gearteten fachlichen Niveau. Denn die fachliche Qualifikation eines Programmierers ist völlig losgelöst von der Mobilität. Sie kann auch im Homeoffice oder virtuell erfolgen. Selbst in der Projektarbeit, da auch diese zunehmend global und damit virtuell wird, wie es in der IT schon fast alltäglich ist.
2.) Die Gewinnerwartung einer solchen Beschäftigung ist geprägt von den marktüblichen Rahmenbedingungen und branchentypischen Arbeitsweisen, wie auch vom Angebot der verfügbaren Talentressourcen.
Ich kann auf Genies wie Prof. Hawking warten, oder ich muss zwischenzeitlich das nehmen, was ich maximal bekomme.
Oder überhaupt noch bekommen kann und damit dann “kreativ” umgehen. Vielleicht improvisieren. Aber mit Sicherheit Aufgabenpakete und Anforderungen so umgestalten, dass es auf das dann akquirierte Talent passt.
Und das ist keine Ausnahme, denn es wird in der Praxis immer schon so gemacht.
Denn das Profil, mit der das Recruiting loszieht, ist immer eine Wunschliste, die dann an der Realität gematcht wird. Der Aufwand muss nur dem erhofften Gewinn entsprechen. Und wenn die Ressourcen knapper werden, dann ändert sich auch das Gewinndenken an sich. Und damit die Wertigkeit der Einzelskills auf der Wunschliste.
Warum die Erdölproduktion ein gutes Beispiel ist
In den 70er Jahren war es fast ein Glaubensbekenntnis, dass das Erdöl in 25-30 Jahren ausgeht. Alle zugänglichen Quellen waren angebohrt und der prognostizierte Weltbedarf matchte nicht mehr mit den vermuteten zugänglichen Quellen. Neue Techniken, Offshore-Förderplattformen, das seitwärtige Bohren, Fracking und Tiefenbohrungen (auch offshore) erreichten immer neue bekannte und bis dahin noch unbekannte Quellen.
Der Höchststand der Förderung wurde erst 2010 erreicht. Investitionen in kapitalintensive Techniken und technische Hilfen wurden mit dem Ölpreisanstieg lohnend. Die Nachfrage wuchs wesentlich schneller als die Gesamtfördermenge. Förderanlagen, die 1980 als zu utopisch und daher zu teuer galten, werden heute mit einer Selbstverständlichkeit aufgestellt, die der damaligen Ansicht spottet.
Warum? Weil es Gewinn bringt.
Steigende Nachfrage verursachte steigende Erlöse, die in andere Techniken investiert wurden, um noch mehr zu fördern. Da diese Menge unterhalb des Bedarfs war, stiegen die Umsatzerlöse weiter. So wurde und wird es auch lohnend in kleinste Ölfelder zu investieren und diese auszubeuten. Denn die zugehörige Technik wurde durch den Breiteneinsatz immer auch noch billiger, was die Gewinnerwartung bei Investitionen weiter förderte.
Selbst schwer zugängliche Felder sind nun im Fokus der Ölindustrie. An den Großen Seen in Afrika, am Oxus in Nordafghanistan oder im Tiefwasser vor den Küsten. Technischer Fortschritt und Gewinnerwartung haben ein Umdenken ermöglicht – ein Umdenken erforderlich gemacht, um überhaupt (!) im Geschäft bleiben zu können.
Und bei behinderten Menschen ist das anders?
Nein, ist es eigentlich nicht. Aber die Wahrnehmung der Personalverknappung ist noch nicht soweit im Fokus der Verantwortlichen, als dass ein solches Umdenken gefördert wird. Bisher erscheinen die notwendigen technischen Investitionen und Prozessanpassungen in den Betrieben als zu groß. Zumindest größer, als die daraus resultierende Gewinnerwartung.
Und natürlich vor dem Hintergrund des Überangebots auf dem Personalmarkt. Doch was passiert, wenn das eintritt, was “demographischer Wandel” heißt? Dann werden die menschlichen Ressourcen knapper. Fast wie beim Öl… Nur, dass es neue Förderorte nur begrenzt geben wird und die vorhandenen Reserven immer älter werden.
Und da kommt dann ein weiterer – wirklich böser – Gedanke ins Spiel: Wenn Menschen im Laufe ihrer Erwerbstätigkeit immer mehr abbauen, älter werden, was unterscheidet sie denn dann am Ende ihres Arbeitslebens noch von den Behinderten? Und wenn wir jetzt noch ehrlicher zu uns selbst sind, dann beobachten wir doch seit Jahren, dass ältere Arbeitnehmer gern „frühzeitig und anderweitig“ verwendet werden. Outplacement, Outsourcing… Man redet halt nicht gern darüber.
Kindermangel, Azubi-Mangel, Fachkräftemangel, Akademikermangel
…bedingen einander und schaffen etwas, was der steigende Bedarf der 70er nach Öl auch geschafft hat: eine notwendige Änderung der Sichtweise. Der Kindermangel begründet den demographischen Wandel, dieser garantiert den Mangel an allem, an das eben dieser fehlende Nachwuchs gebunden ist: Azubis, Fachkräfte und Akademiker.
Es geht hier also nicht um eine eventuelle Änderung der Sichtweise, sondern nur um das WANN! – Und wer da zu spät kommt, den bestraft das Leben. Oder der fehlende Nachwuchs tut das…
Und es geht hier nicht nur um Behinderte, das Beispiel war nur so schön greifbar. Es geht auch um unsere Sichtweise zu Arbeitsunfähigkeit, (auch) zu Frauenarbeit in welcher Rolle auch immer und zur Frage, wie niedrig qualifizierte Arbeit in Zukunft zu sozialalimentierten Lebensweisen zu bewerten ist. Letzteres ist besonders bedeutend, wenn wir (mögliche) Altersarmut und auch noch behinderungsbedingte Beschäftigungslosigkeit betrachten.
Future Work beinhaltet auch die Zugänglichmachung des Arbeitsmarktes für Talente, die bisher nicht betrachtet wurden oder deren Wertschöpfung nicht im Mittelpunkt der Optimierungen stand. Die gerne in der Behindertenquote geparkt wurden, oder mit denen man über Behindertenbeauftragte im Unternehmensalltag umgegangen ist.
Teilweise auch, um möglichen Strafzahlungen zu entgehen. Letzteres war dann auch ein Aspekt der Gewinnerwartung (durch Kostenvermeidung!), aber nicht das Augenmerk, das eine Future Workfoce Planning darauf haben sollte.
Es geht um Chancenwahrung, Chancennutzung, Potentialentfaltung, Vakanzenreduzierung und nicht um Quotenerfüllung. Diese allein rechnet sich in Zukunft nicht mehr. Schon gar nicht, wenn die Konkurrenz beginnt das anders zu machen.
Und da wären wir wieder beim Öl. Wer in den 70ern notwendige Investitionen in Forschung und Technik zur Erschließung bekannter und nicht erreichbarer Quellen scheute, verlor Marktanteile. Und Geld. Wer jetzt nicht brach liegende Ressourcen erschließt, wird zusehen, wie andere das tun. Und auch Geld verlieren.
Nicht vergessen, und einfach mal die Preisschilder an den Tankstellen beobachten…
Auch:
Joint Future Work – Ein Tsunami verändert die Arbeitswelt der Zukunft | Conplore Wirtschaftsmagazin
Video vom Bundesamt für Bevölkerungsentwicklung: Demographie / demographischer Wandel (HIER)
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