Die Generaldirektorin der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, Frau Dr. Sabine Schormann, erklärt:
In den vergangenen Wochen hat es in der Öffentlichkeit anhaltende Kritik am Umgang der documenta mit den erhobenen Antisemitismus-Vorwürfen gegeben; insbesondere wurde behauptet, wir hätten zu wenig Maßnahmen eingeleitet.
Wir haben uns darauf konzentriert im Sinne der documenta fifteen, aufzuklären und zu handeln. Dies geht nur gemeinsam mit der Künstlerischen Leitung und den Künstler*innen. Dabei ist die Rollenverteilung zu berücksichtigen: Die Künstlerische Leitung ist für alle künstlerischen Inhalte und Umsetzungen verantwortlich, die Geschäftsführung für den organisatorischen und finanziellen Rahmen.
AUFHÄNGUNG DES BANNERS PEOPLE’S JUSTICE UND NACHFOLGENDE HANDLUNGEN DER DOCUMENTA
Es ist ungeheuer schmerzlich – und ich möchte nochmals mein tiefstes Bedauern darüber ausdrücken – dass das Banner People‘s Justice von Taring Padi mit antisemitischen Bildmotiven überhaupt installiert wurde. Dies hat auch mich zutiefst erschüttert. Die mehrfachen internen und öffentlichen Erläuterungen, wie es dazu kommen konnte, sowie die aufrichtigen Entschuldigungen von ruangrupa und Taring Padi waren daher äußerst wichtig.
Nach Bekanntwerden der antisemitischen Bildmotive auf dem Taring Padi Banner, habe ich umgehend gehandelt und in Abstimmung mit der Künstlerischen Leitung und Mitgliedern von Taring Padi entschieden, das Banner sofort abzudecken. Eine Entfernung des Werks aus der Ausstellung gegen den Willen der Künstlerischen Leitung und der Künstler*innen wäre als Ultima Ratio ein erheblicher Eingriff in die Künstlerische Freiheit gewesen. Daher war eine sofortige Rücksprache mit dem Aufsichtsrat notwendig, der seine Rückendeckung gegeben hat, auch für den Fall, dass Teile der Künstlerschaft wegen Zensurvorwürfen die Ausstellung verlassen hätten, wie es damals schon im Raum stand. ruangrupa und Taring Padi jedoch haben die Deinstallation des Banners mitgetragen. Sie haben Verantwortung übernommen.
Da es nach diesem Vorfall nicht ausgeschlossen schien, dass es möglicherweise mehr Fehleinschätzungen oder im Prozess unerkannte Fälle von nicht tragbaren Inhalten geben könnte, habe ich weitere Schritte eingeleitet. Ziel war und ist es – koordiniert durch das documenta archiv – in Zusammenarbeit und im Rahmen der Verantwortung der Kurator*innen und Künstler*innen zu prüfen, ob weitere antisemitische Inhalte vorhanden sind und neue auszuschließen, da sich die Schau konzeptgemäß aktiv verändert und Aktivierungen stattfinden.
Um bestmöglich zu unterstützen, wurde und wird durch das documenta archiv ein Netzwerk aus externem Berater*innen aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen aufgebaut, das den Kurator*innen und Künstler*innen zur Seite steht. Darunter finden sich renommierte Fachwissenschaftlerinnen, die ihre Arbeit wie in der Wissenschaft üblich primär außerhalb der Öffentlichkeit ausführen. Begleitend dazu werden Ergebnisse und vertiefende Fragestellungen in weiteren Podien diskutiert.
Im Sinne der Gesamtaufstellung der documenta fifteen, die Ade Darmawan von ruangrupa im Kulturausschuss des Deutschen Bundestages detailliert erläutert hat, ist das Verfahren kooperativ angelegt: Die Kurator*innen sind aufgefordert, Expertise aus diesem Beratungsnetzwerk hinzuziehen, wenn sie selbst nicht abschließend bewerten können, ob ein für die Ausstellung gedachtes Werk eine Bildsprache verwendet, die antisemitisch ist. Dieses kooperative Verfahren wurde den angefragten Expert*innen klar kommuniziert, genauso wie die Arbeitsweise.
Für die bisher öffentlich in den Fokus geratenen Werke hat bereits eine Sichtung mithilfe der Kunsthistoriker*innen des documenta archivs und Fachexpertise aus dem Netzwerk stattgefunden. Strafrechtliche Stellungnahmen anerkannter Expert*innen, auch zu „People’s Justice“, liegen bereits vor oder sind beauftragt. Im Rahmen der üblichen juristischen Vorsicht kommen sie zu dem Schluss, dass keine Strafbarkeit gegeben ist. Der Befund ist, dass man über die Werke zwar streiten kann, aber keine weitergehenden Maßnahmen notwendig sind, die über eine begleitende Vermittlung hinausgehen.
Der Dialog mit der Öffentlichkeit wurde am 29. Juni 2022 mit der Podiumsdiskussion zu Antisemitismus in der Kunst weitergeführt, der eine Reihe vertiefender öffentlicher Gespräche folgen werden. Darüber hinaus werden gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Akteuren Begegnungs- und Informationsmöglichkeiten an zentraler Stelle etabliert, an dem Besucher*innen, aber auch Künstler*innen in einen Dialog zu Fragen des Antisemitismus und Rassismus kommen können. Weitere Kooperationsprojekte sind in Arbeit.
BLICK ZURÜCK: ANTISEMITISMUS-VORWÜRFE SEIT JANUAR 2022
Seit dem 10. Januar 2022 standen – ausgehend von einem Blog-Beitrag zunächst pauschale – Antisemitismus-Vorwürfe gegen die documenta fifteen und die Künstlerische Leitung ruangrupa im Raum: Einzelne Beteiligte standen aufgrund ihrer Herkunft oder (vermeintlichen) BDS-Nähe im Fokus. Verschiedene Vorwürfe wurden in der folgenden medialen Debatte zum Teil unhinterfragt aufgegriffen und hoben das Thema in die Feuilletons und (kultur-)politischen Debatten.
Die Geschäftsführung der documenta und Museum Fridericianum gGmbH hat daraufhin im Januar 2022 umgehend folgende Schritte eingeleitet:
Es gab eine Vielzahl von Gesprächen mit ruangrupa und Künstler*innen zur Aufklärung und zur Auseinandersetzung mit den Vorwürfen analog zur von Ade Darmawan beschriebenen, künstlerischen Arbeitsweise der documenta fifteen. Diese knüpften an die bereits bestehende Beschäftigung der Künstlerischen Leitung mit der Geschichte Kassels und Deutschlands an.
Auf kommunikativer Ebene folgten mehrere Gegendarstellungen und Erklärungen aller Beteiligten.
In den Gesprächen im Januar empfahlen Bund (BKM) und Land (HMWK) zusätzlich, externe Expertise einzuholen. Dafür wurde kein feststehendes, beim Aufsichtsrat angesiedeltes Gremium, sondern ein fünfköpfiges Berater*innen-Team zur Unterstützung der Künstlerischen Leitung und der Künstler*innen sowie der gGmbH eingesetzt. Die Koordination übernahm auf Empfehlung unter anderem des BKM und in Abstimmung mit dem Künstlerischen Team die Autorin und Kuratorin Emily Dische-Becker. Die Aufgaben: umfassende Beratung zu (auch medialen) Fragen mit Bezug zu Antisemitismus und dem israelisch-palästinensischen Verhältnis sowie umfassende Unterstützung bei der Planung, Durchführung und Organisation der geplanten Expert*innen-Foren. Die restlichen Mitglieder des Teams, u. a. Herr Dr. Anselm Franke (damals Leiter des Bereichs Bildende Kunst und Film, Haus der Kulturen der Welt, ab 1. August 2022 Professor für Curatorial Studies an der Zürcher Hochschule der Künste) und Herrn Dr. Ofer Waldmann (Autor, Redner und Berater zu deutsch- bzw. europäisch-israelischen Fragestellungen) wurden von Frau Dische-Becker aufgestellt. Dazu kam eine medienrechtliche Begleitung.
Im weiteren Verlauf gab es fortgesetzte Gespräche mit verschiedenen Beteiligten, u. a. mit dem Aufsichtsrat und der Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Im Austausch mit Frau Roth haben Mitglieder von ruangrupa sowie Künstler*innen umfangreich zu ihrer Arbeit berichtet.
Die Empfehlung von BKM, KSB und HMWK, in den weiteren Dialog zu gehen, wurde gleichfalls aufgegriffen. Hierzu hat die Künstlerische Leitung unter dem Titel We need to talk Expert*innenforen vorbereitet, die multiperspektivisch angelegt und durch Fachvertreter*innen, nicht durch institutionelle Repräsentant*innen besetzt sein sollten. Dazu gehörten auch Professor Meron Mendel und Hito Steyerl, die sehr früh in die Entwicklung der Reihe einbezogen waren. Zur Besetzung der Podien wurden Hinweise von BKM und HMWK aufgenommen.
In diesem Zusammenhang fand auf Initiative der Geschäftsführung außerdem am 4. März 2022 ein fast zweistündiges digitales Meeting mit dem Zentralrat der Juden, namentlich mit Herrn Daniel Botmann, statt, bei dem die Konzeption der Ausstellung und der geplanten Expert*innen-Foren erläutert wurde. Dabei wurde verdeutlicht, dass es der Künstlerischen Leitung in diesen Foren um die Multiperspektivität der Sichtweisen ging, aber nicht darum, Repräsentant*innen aus Institutionen sprechen zu lassen. Der Zentralrat der Juden reagierte nach der öffentlichen Vorstellung der Reihe mit einem in der Presse teilweise bekanntgewordenen Brief an Frau Kulturstaatsministerin Roth. In dessen Folge hatten mehrere Teilnehmer*innen der am darauffolgenden Sonntag beginnenden Reihe Bedenken, ob sie ihre Position frei vertreten könnten. Die Reihe wurde vor diesem Hintergrund ausgesetzt, sollte aber wieder aufgenommen werden.
EXTERNES EXPERT*INNENGREMIUM UND WEITERE AKTUELLE ENTWICKLUNGEN
Bei allen notwendigen Maßnahmen darf eines nicht vergessen werden: Die Künstlerische Leitung und die mittlerweile 1.500 Künstler*innen haben bereits im Januar nach Aufkommen der Antisemitismus-Vorwürfe Zensur befürchtet und deswegen ein externes Expert*innengremium abgelehnt. Sie sahen sich unter Generalverdacht gestellt und aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder auch ihrer sexuellen Orientierung diffamiert und zum Teil auch bedroht. Insofern gab es bereits im Januar eine deutliche Abwehrhaltung gegenüber Eingriffen in die Kunst.
Die in Teilen der Medien und Politik neuerlich erhobene Forderung, durch ein externes Expert*innengremium mit Entscheidungsbefugnissen die Ausstellung überprüfen zu lassen, hat vor diesem Hintergrund nicht nur zu Unstimmigkeiten mit Herrn Prof. Meron Mendel, seinem persönlichen Rückzug aus der Beratung und dem daran anknüpfenden Rückzug der von dem teilnehmenden Künstler*innenkollektiv INLAND eingeladenen Künstlerin Hito Steyerl geführt, sondern auch das Vertrauensverhältnis zu ruangrupa und den Künstler*innen enorm belastet.
In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass diverse Darstellungen von Herrn Prof. Mendel zuletzt in verschiedenen Interviews – u. a. im Spiegel – von uns nicht nachvollzogen werden können. Exemplarisch zu nennen sind die Aussagen, es habe über einen Zeitraum von zwei Wochen keinen Kontakt gegeben, die Aufgabe sei nicht klar gewesen, und nur auf sein nachdrückliches Wirken hin habe ruangrupa dem Podium Antisemitismus in der Kunst beigewohnt. Die documenta hat seit dem erneuten Kontakt mit Herrn Prof. Mendel bezüglich einer Beratung der Künstlerischen Leitung und der Künstler*innen im Juni durch die Geschäftsführung gemeinsam mit der Direktorin des documenta archivs durchweg Kontakt zu diesem gehabt. Dieser lief zuständigkeitshalber über die Direktorin des documenta archivs die berechtigt war, im Sinne der Geschäftsführung mit Herrn Prof. Mendel alle Fragen zu erörtern. In diesem Zusammenhang sind Herrn Prof. Mendel in der Woche ab dem 20. Juni 2022 seine geplanten Aufgaben kommuniziert worden. Die Einladung von ruangrupa zu der Podiums-Diskussion haben weder ich noch andere Mitglieder der documenta verhindern wollen – ganz im Gegenteil: Wir haben diese Einladung aus freien Stücken selbst ausgesprochen und ruangrupa ist dieser auch unmittelbar nachgekommen.
Vor dem Hintergrund von Aussagen wie denen im HNA-Interview von Herrn Prof. Mendel vom 27. Juni 2022, in dem er auf die Frage „Im schlimmsten Fall werden die Werke entfernt?“ mit „Genau. Das ist ein Instrument, das wir uns vorbehalten. Es ist auch möglich, Künstlerinnen und Künstler auszuladen.“ antwortete, verstehen die Künstlerische Leitung, aber vor allem die Künstler*innen, inzwischen auch die selbständige Überprüfung durch Mitglieder von ruangrupa, Artistic Team und den betroffenen Künstler*innen, bei der interner und externer Sachverstand zur Unterstützung herangezogen werden kann, als (Selbst-)Zensur.
Zudem ist durch Vorfälle mit diskriminierenden Inhalten, u. a. mit rassistischem und transphobem Hintergrund, der Eindruck entstanden, in Kassel und Deutschland nicht willkommen oder sogar gefährdet zu sein. Das Sicherheitsbedürfnis ist hoch und die documenta und Museum Fridericianum gGmbH hat deswegen umfangreiche Maßnahmen ergriffen, um diesem Sicherheitsbedürfnis entgegenzukommen, u. a. wurden ein zusätzlicher Sicherheitskoordinator eingesetzt, weiteres Sicherheitspersonal beauftragt und Gespräche mit der Polizei geführt.
TICKETVERKÄUFE DER DOCUMENTA FIFTEEN UND PERSPEKTIVEN DER DOCUMENTA
Die gebuchten Ticketeinnahmen bis Ende Juni 2022 lagen höher als bei den beiden vorherigen Ausgaben der documenta. Das ist trotz der anhaltenden Antisemitismus-Debatte sowie der sich in den letzten Wochen wieder verschärfenden Corona-Lage, die insbesondere den traditionell stark vertretenen Besucher*innen aus Asien die Anreise nahezu unmöglich macht, erfreulich. Auch während des bisherigen Ausstellungsverlauf ist ein positiver Trend zu beobachten: So war am vergangenen Samstag, den 9. Juli 2022, das vierte Mal in Folge an einem Samstag ein neuer Besucher*innenrekord zu verzeichnen. Auch die Veranstaltungen des ersten Meydan-Wochenendes wurden mit mehreren tausend Besucher*innen gut angenommen.
Die documenta ist keine Nationen- oder Kunstleistungsschau. Sie legt nicht nur im Bereich der Kunst, sondern auch für gesellschaftliche Fragestellungen zukunftsweisende Konzepte vor. Möglich wird dies, weil seit Jahrzehnten die künstlerische Freiheit der jeweiligen Künstlerischen Leitung und der beteiligten Künstler*innen garantiert wurde. Darauf gründet sich der Ruf der documenta als bedeutendster Kunstausstellung der Welt. Die künstlerische Freiheit wird garantiert durch die beschriebene, seit Jahrzehnten bestehende Struktur, die ein ausgewogenes Zusammenspiel von Gesellschaftern, Aufsichtsrat, Internationaler Findungskommission, Künstlerischer Leitung und Geschäftsführung mit klarer Verteilung der Aufgaben vorsieht. Nach der documenta 14 wurde von der aktuellen Geschäftsführung begonnen, diese erfolgreiche, aber organisatorisch in die Jahre gekommene Struktur zu modernisieren, nicht zuletzt hinsichtlich der räumlichen und personellen Basis. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Jetzt aber gilt es zunächst, mit vereinten Kräften die documenta fifteen erfolgreich zum Abschluss zu bringen: mit Fairness, Solidarität und Vertrauen, insbesondere zur Künstlerischen Leitung und den Künstler*innen.
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