Wie die schöne Tote aus der Seine noch heute Leben rettet.

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Die Geschichte der “Inconnue de la Seine” ist eine jener tragischen Legenden, die das menschliche Herz auf eine unerklärliche Weise berühren. Sie ist ein Mysterium, eine Muse, ein Symbol der flüchtigen Schönheit und der stillen Melancholie des Lebens. Ihre Geschichte verbindet das Geheimnis des anonymen Todes mit der inspirierenden Kraft der Kunst und der Menschlichkeit.

Im späten 19. Jahrhundert wurde der leblose Körper einer jungen Frau aus der Seine gezogen, unweit des Pariser Viertels Île de la Cité. Niemand kannte ihren Namen, niemand meldete sie als vermisst, und es gab keine Anhaltspunkte zu ihrer Identität. Ihre Umstände blieben ein Rätsel: War sie eine Verzweifelte, die ihrem Leben ein Ende setzen wollte? War sie Opfer eines Verbrechens? Oder war es ein Unfall, der sie in den Fluss stürzen ließ? Doch es war nicht ihre Geschichte — oder vielmehr ihr Mangel an Geschichte — die sie unsterblich machte, sondern das Lächeln auf ihrem Gesicht. Als man ihren Leichnam in die Leichenhalle von Paris brachte, wurde ihre Erscheinung zu einem Phänomen.

Die Pariser Leichenhallen des 19. Jahrhunderts waren damals nicht nur Orte für forensische Untersuchungen, sondern auch eine Art morbide Sehenswürdigkeit. Menschen kamen, um die unbekannten Toten zu betrachten, in der Hoffnung, einen vermissten Verwandten zu finden oder einfach aus Sensationslust. Doch bei der “Inconnue de la Seine” war etwas anders. Ihr Gesichtsausdruck strahlte eine ungewöhnliche Ruhe und eine unerklärliche Melancholie aus. Es war ein junger Angestellter der Leichenhalle, der von ihrem friedlichen Ausdruck so fasziniert war, dass er beschloss, eine Totenmaske von ihr anfertigen zu lassen. Die Maske, aus Gips geformt, wurde bald zu einem Kunstwerk.

Die “Inconnue de la Seine” – die Unbekannte der Seine – wurde zur Muse unzähliger Künstler und Schriftsteller. In einer Zeit, die von der Romantik und einer Faszination für Tod und Vergänglichkeit geprägt war, schien ihr Gesicht wie ein Symbol für die flüchtige Schönheit des Lebens. Ihr geheimnisvolles Lächeln, das an das der Mona Lisa erinnert, inspirierte Poeten wie Rainer Maria Rilke, der in ihren Zügen das unerklärliche Sehnen und die Vergänglichkeit des Lebens sah. Der irische Schriftsteller Richard Le Gallienne widmete ihr sogar einen Roman mit dem Titel “The Worshipper of the Image”. Für die Romantiker des Fin de Siècle war sie das perfekte Symbol für die Idee der schönen Toten, einer melancholischen Vorstellung von Schönheit, die nur im Tod vollendet ist.

Auch die bildenden Künste wurden von der “Inconnue” erfasst. Ihr Gesicht wurde in Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen verewigt. Die deutsche Malerin Gerda Wegener schuf eine Serie von Bildern, die das geheimnisvolle Lächeln der “Inconnue” einfingen und es mit Farben und Formen verstärkten. Zeitgenössische Bildhauer interpretierten ihre Züge als Symbol der Anonymität und der universellen Menschlichkeit.

Doch ihre Geschichte endete nicht mit der Kunst. Im 20. Jahrhundert bekam sie eine neue, unerwartete Bedeutung. In den 1950er Jahren entwickelte der norwegische Spielzeugmacher Åsmund Laerdal eine realistische Puppe für die Wiederbelebungsübung, die sogenannte “Resusci Anne”. Der Grundstein für dieses Projekt war eine persönliche Tragödie: Laerdal hatte erlebt, wie sein eigener Sohn beinahe ertrunken wäre, und er wollte ein Werkzeug schaffen, das Leben retten konnte. Als er nach einem Gesicht für die Puppe suchte, entschied er sich für die “Inconnue de la Seine”. Ihr Lächeln, das einst Künstler inspiriert hatte, wurde zum Symbol der Hoffnung und des Lebens.

©LAERDAL

Die Entstehung der “Resusci Anne” war jedoch keine Einzelleistung. Um Ersthelfer in großem Stil auszubilden, suchten der US-Kardiologe Archer Gordon und der norwegische Anästhesist Björn Lind nach einer geeigneten Methode. Sie schlossen sich mit Åsmund Laerdal zusammen, der durch seine Erfahrungen mit der Rettung seines eigenen Sohnes hoch motiviert war. Wie die Medizinerinnen Stephanie Loke und Sarah McKernon im “British Medical Journal” schreiben, entwickelte Laerdal gemeinsam mit Lind eine ganze Reihe von Übungspuppen. 1960 wurde die “Resusci-Familie” geboren, bestehend aus Resusci Anne, Resusci Andy und Resusci Baby. Das Gesicht von Resusci Anne empfand Laerdal einer Totenmaske nach, die er im Haus seiner Großeltern gesehen hatte – es war das der unbekannten Toten aus der Seine.

Peter Safar, ein weiterer Pionier der Notfallmedizin, ermutigte Laerdal dazu, eine Feder in den Brustbereich der Puppe einzubauen, sodass beim Erlernen der Herzdruckmassage ein lebensechter Widerstand zu spüren war. Dies ersparte menschlichen Freiwilligen Schmerzen, Hämatome und das Risiko gebrochener Rippen. Bereits 1972 wurde die Puppe im großen Stil eingesetzt: Die Stadt Seattle bildete innerhalb von zwei Jahren über 100.000 Menschen zu Ersthelfern aus.

Annie wurde stetig weiterentwickelt. In den 1980er-Jahren zeigte erstmals ein elektronisches Display an, wie gut sich die Übenden bei der Wiederbelebung schlugen. Heute kann die Puppe detaillierte Daten erfassen und auch den Einsatz eines Defibrillators simulieren. Nach Angaben der Firma Laerdal haben ihre Wiederbelebungspuppen weltweit mehr als 500 Millionen Menschen geschult, wodurch schätzungsweise 2,5 Millionen Leben gerettet wurden.

Annie hat nicht nur Leben gerettet, sondern fand auch Einzug in die Popkultur. In englischsprachigen Ländern wird Ersthelfern beigebracht, zu überprüfen, ob eine Person bei Bewusstsein ist, indem sie fragen: “Annie, are you okay?” Diese Frage inspirierte Michael Jackson zu seinem Hit “Smooth Criminal”, in dem Annie von einem Einbrecher niedergeschlagen wird. Was zu der Tat führte, bleibt ein Rätsel – genauso wie das Schicksal der Unbekannten aus der Seine.

Åsmund Laerdal selbst gilt bis heute als einer der bedeutendsten Hersteller von Beatmungsmasken und medizinischem Trainingsequipment. Sein Unternehmen, Laerdal Medical, ist weltweit führend in der Entwicklung von Simulationstechnologien und Schulungsmaterialien für Notfallsituationen. Seine Vision, Leben zu retten, hat unzählige Innovationen hervorgebracht, darunter hochmoderne Reanimationspuppen und Trainingsprogramme, die von medizinischem Fachpersonal und Laien gleichermaßen genutzt werden. Die Entscheidung, das Gesicht der “Inconnue” für “Resusci Anne” zu verwenden, bleibt ein Beispiel dafür, wie Kunst und Medizin auf einzigartige Weise miteinander verbunden werden können.

Noch heute findet sich die “Inconnue” in der Kunst wieder. Moderne Maler, Bildhauer und Fotografen interpretieren ihre Maske auf unterschiedliche Weise. Manche sehen in ihr ein Symbol für die Anonymität in einer urbanisierten Welt, andere ein Memento Mori, das an die Vergänglichkeit des Lebens erinnert. Die französische Bildhauerin Elisabeth Daynès hat eine beeindruckende Rekonstruktion des Gesichts geschaffen, die sie in einen lebendigen, beinahe atmenden Menschen zu verwandeln scheint. Gleichzeitig verwenden Performance-Künstler ihre Geschichte als Metapher für die Vergessenen und Namenlosen unserer Gesellschaft.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist das Werk der deutschen Schriftstellerin Nina George, die in ihrem Roman “Das Lavendelzimmer” die Idee der “Inconnue” aufgreift. Für George ist sie ein Symbol für die Macht der Literatur und der Erinnerung, die das Vergessen überwinden kann. Ihr Werk zeigt, wie die Geschichte der “Inconnue” uns immer wieder daran erinnert, dass jede Anonymität eine Geschichte birgt, die es zu entdecken gilt.

Die “Inconnue de la Seine” hat die Zeiten überdauert. Sie bleibt eine der wenigen, die in ihrer Anonymität berühmt wurde, ein Gesicht ohne Namen, aber voller Bedeutung. Ihre Geschichte ist ein Zeugnis für die Macht von Kunst, Erinnerung und Menschlichkeit. Sie erinnert uns daran, dass ein Gesicht, ein Lächeln oder ein Geheimnis die Kraft haben kann, die Zeiten zu überdauern. Ob in der Kunst oder als erste Hilfe-Puppe, sie bleibt ein zeitloses Symbol für Schönheit, Hoffnung und Menschlichkeit.

Mehr über die unbekannte Schöne

https://www.beauxarts.com/grand-format/linconnue-de-la-seine-icone-mysterieuse-qui-obsede-les-artistes

https://www.rtl.fr/culture/culture-generale/qui-est-l-inconnue-de-la-seine-cette-jeune-fille-noyee-devenue-une-icone-7900378573

https://de.wikipedia.org/wiki/Resusci-Anne

https://laerdal.com/de/products/simulation-training/resuscitation-training/little-family

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