1. Wer ist Raskolnikow?
Raskolnikow, der Protagonist von Schuld und Sühne (1866), ist ein armer Student in Sankt Petersburg. Er lebt in extremer Armut, krank, zerrissen und voller übersteigerter Gedanken. Er verfasst eine Theorie: Die Menschheit teile sich in „gewöhnliche“ und „außergewöhnliche“ Menschen. Letztere hätten das Recht, im Namen einer höheren Idee Gesetze zu brechen – ja, sogar zu töten. Um diese Theorie an sich selbst zu beweisen, ermordet er eine alte Pfandleiherin – und zerbricht innerlich an Schuld, Wahn und Gewissensbissen.
2. Biografische Wurzeln: Dostojewski und die Schuld
Dostojewski wusste, wie es sich anfühlt, Schuld und Tod ins Auge zu blicken.
- 1849 wurde er im sogenannten Petraschewski-Kreis wegen „staatsfeindlicher Umtriebe“ verhaftet. Er stand schon vor dem Erschießungspeloton, als im letzten Moment die Begnadigung verkündet wurde. Diese Scheinhinrichtung hinterließ ein Trauma, das ihn nie verließ.
- Jahre in Sibirien (Zwangsarbeit im Lager in Omsk) lehrten ihn das Elend, die Demütigung und das Leben unter Verbrechern. Er beobachtete dort Menschen, die mordeten, stahlen, betrogen – und erlebte zugleich, dass selbst im härtesten Umfeld ein Funken Mitgefühl oder Menschlichkeit möglich war.
Aus diesen Erfahrungen schöpfte er: Er kannte die Dunkelheit, die Schuldgefühle, aber auch das Bedürfnis nach Rechtfertigung. Raskolnikow ist eine literarische Verarbeitung all dieser Erfahrungen.
3. Philosophische Quellen: Die Theorie vom „außergewöhnlichen Menschen“
Die Idee Raskolnikows ist nicht aus der Luft gegriffen. Sie speist sich aus den geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts:
- Napoleon-Kult: Dostojewski erlebte eine Zeit, in der Napoleon als „außergewöhnlicher Mensch“ gefeiert wurde – jemand, der für „höhere Zwecke“ Opfer forderte. Raskolnikow träumt davon, ein kleiner Napoleon zu sein.
- Utilitarismus und Nihilismus: Junge Intellektuelle im Russland der 1860er spielten mit der Idee, Moral sei relativ. Der Mensch müsse über Religion und traditionelle Werte hinausdenken.
- Eigenes Ego: Raskolnikows Theorien sind auch ein Ventil für verletzte Eitelkeit. Er will beweisen, dass er „mehr“ ist als die Masse.
Kurz: Raskolnikow ist eine Mischung aus Zeitgeist, Philosophie und persönlichem Größenwahn – genau wie Dostojewski ihn in jungen Jahren selbst erlebte.
4. Psychologische Dimension: Das „Doppelwesen“
Raskolnikow bedeutet übersetzt in etwa „der Gespaltene“ (vom russischen „raskol“ = Spaltung). Schon im Namen steckt seine Zerrissenheit.
- Auf der einen Seite: die kalte, rationale Theorie, die ihm erlaubt, die Pfandleiherin wie ein Insekt zu zerquetschen.
- Auf der anderen Seite: das übermächtige Gewissen, das ihn nicht zur Ruhe kommen lässt.
Dostojewski hat dieses Doppelwesen nicht erfunden – er kannte es von sich selbst. Auch er war zwischen Vernunft und Schuld, Genuss und Scham hin- und hergerissen. Seine Spielsucht, seine Bordellbesuche, seine Schuld gegenüber Frauen und Familie – all das spiegelte er in Raskolnikows Wahn.
5. Das Frauenmotiv: Sonja als Gegenpol
Raskolnikow wäre nicht Dostojewski, wenn es keinen moralischen Gegenpol gäbe. Dieser heißt Sonja Marmeladowa – eine junge Prostituierte, die trotz Elend und Erniedrigung an Güte und christlicher Demut festhält.
Sie ist das Gegenbild zu Raskolnikow: Während er versucht, sich über die Moral zu erheben, lebt sie Moral trotz Erniedrigung. In ihr sieht er die Erlösung – und am Ende bekennt er sich unter ihrem Einfluss zu seiner Schuld.
Dostojewski übertrug hier auch sein eigenes Frauenbild: Prostituierte, die durch Opferbereitschaft eine Art „heilige Reinheit“ verkörpern. Sonja ist also die literarische Projektion jener Frauenfiguren, die er selbst gleichzeitig verehrte und begehrte.
6. Warum Raskolnikow?
Warum erschafft Dostojewski so eine Figur?
- Literarischer Spiegel: Er wollte die Frage durchspielen: „Darf ein Mensch töten, wenn er sich für groß genug hält?“
- Biografische Katharsis: Raskolnikow ist sein Ventil, um eigene Schuld, Scham und Größenfantasien auszuloten.
- Gesellschaftlicher Kommentar: Russland der 1860er war voller junger Männer wie Raskolnikow: Studenten, mittellos, voller Ideale und Wut – gefährlich genug, um tatsächlich über Leichen zu gehen.
7. Fazit
Raskolnikow ist keine reine Romanfigur, sondern ein Kondensat: aus Dostojewskis eigener Schuld, aus seinen philosophischen Lektüren, aus dem russischen Zeitgeist und aus der psychologischen Zerrissenheit, die ihn selbst quälte.
Er ist eine Figur, die aufzeigt, wie dünn die Grenze zwischen „Gedanke“ und „Tat“ ist – und wie unausweichlich das menschliche Gewissen bleibt. Deshalb bleibt er auch 150 Jahre später aktuell: Jeder Leser findet in Raskolnikow ein Stück des eigenen inneren Zwiespalts – zwischen dem Wunsch nach Größe und der Last der Verantwortung.