Ein episches Porträt der Verlorenheit – und ein zähes Leseerlebnis
Norman Mailers Gnadenlos ist kein Roman, den man „mal eben“ liest. Wer sich dieses Buch vornimmt, macht das nicht aus Lust an leichter Unterhaltung. Man tut es eher aus einer Mischung aus intellektuellem Ehrgeiz, morbider Faszination und dem Bedürfnis, einmal in den Abgrund zu schauen – und zwar gründlich.
Das Buch ist ein wuchtiger Koloss mit über 1.000 Seiten, ein dokumentarischer Roman, der auf der wahren Geschichte von Gary Gilmore basiert: einem Mann, der 1976 in Utah zwei Menschen ermordete und danach sein Todesurteil nicht nur akzeptierte – sondern unbedingt vollstreckt haben wollte. Der erste Häftling in den USA nach zehn Jahren Pause, der wieder hingerichtet wurde.
Inhalt: Ein Mensch, der sterben will
Mailer erzählt minutiös, beinahe besessen genau, wie sich das Leben und der Tod von Gary Gilmore abspielten. Er beschreibt die Morde, die Ermittlungen, die juristische Farce rund um das Todesurteil – und vor allem Gilmores verzweifelten Kampf darum, endlich sterben zu dürfen.
Das allein wäre schon ein düsteres Thema, aber Mailer geht tiefer: Er beleuchtet Gilmores Jugend, seine Beziehungen, seine verquere Liebe zur sensiblen Nicole Baker, seine Selbstzerstörung und den grotesken Medienrummel um seinen Tod.
Sprache und Stil: Detailverliebtheit am Rande des Wahnsinns
Das größte Problem – und zugleich die größte Stärke – dieses Romans ist seine Detailversessenheit. Mailer schreibt im dokumentarischen Stil, beinahe wie ein Protokollführer. Er verwendet wörtliche Rede, Zeugenberichte, Zeitungsausschnitte, Interviews. Und das ohne erkennbare Gliederung, ohne Kapitelstruktur, ohne dramaturgische Tricks.
Stellenweise liest sich das wie ein endloses Gerichtsprotokoll. Manchmal grandios, oft zäh. Denn was man hier liest, ist keine Spannung im klassischen Sinne – es ist das langsame, unaufhaltsame Absinken eines Menschen in den Tod.
Wer auf erzählerische Kniffe oder sprachliche Eleganz hofft, wird enttäuscht. Hier dominiert der nüchterne Blick, der alles aufblättert, seziert, offenlegt – ungeschönt, ungekürzt, unnachgiebig.
Leseerlebnis: Ein Marathon, kein Spaziergang
Lesen bedeutet hier nicht genießen, sondern durchhalten. Nicht selten fragt man sich auf Seite 600, ob es das wirklich wert ist. Die Dialoge sind trocken, die Figuren oft kaputt, der Plot kennt kaum Spannung im herkömmlichen Sinn.
Und doch zieht einen das Buch in seinen Bann – auf eine seltsame Weise. Weil es echt wirkt. Weil es einen Blick auf eine Welt erlaubt, die sonst im Verborgenen bleibt: eine Welt aus Verlierern, Knast, Drogen, Gewalt, verlorenen Träumen und letztlich dem Tod als letzte Konsequenz einer inneren Leere.
Thema: Der Wille zur Selbstvernichtung
Gilmores Wunsch, sterben zu dürfen, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Es ist keine Reue, die ihn treibt – es ist eher so etwas wie Stolz, eine verquere Idee von Ehre. Er will nicht betteln, keine Gnade, kein Mitleid.
Mailer zwingt den Leser dazu, sich mit der Todesstrafe zu befassen – aber nicht moralisierend, sondern durch die brutale Darstellung dessen, was sie mit Menschen macht. Opfer wie Täter.
Fazit: Ein literarischer Moloch – schwer, düster, unvergesslich
Gnadenlos ist ein Meisterwerk der Dokumentarliteratur, aber ein sperriges. Es ist kein Buch für zwischendurch, sondern ein Projekt. Wer es liest, muss Geduld mitbringen, Hartnäckigkeit und eine gewisse emotionale Kälte.
Doch am Ende steht ein Gesamtbild, das seinesgleichen sucht: ein ungeschöntes Psychogramm eines Mannes, der unbedingt sterben will – und einer Gesellschaft, die ihn dabei beobachtet, füttert, zitiert, begafft… und schließlich erschießt.
Empfehlung: Für Leser mit Ausdauer, Sinn für psychologische Tiefe und Interesse an amerikanischer Gesellschaftskritik. Für Menschen, die nicht Unterhaltung suchen, sondern Wahrheit.
Bewertung: ⭐⭐⭐⭐☆ (4 von 5) – Ein Werk von erschütternder Intensität, aber so schwer zugänglich wie ein Granitblock in Textform.
Übrigens: Im Alter hat man endlich die Zeit für solche Bücher. Für jene Wälzer, die man jahrzehntelang ins Regal gestellt, aber nie angerührt hat. Jetzt, wo Ruhe einkehrt und kein Chef mehr nervt, kann man sich diesen literarischen Kraftakten stellen.
Und seien wir ehrlich: Lesen bildet. Wussten Sie das?
Es macht einen nicht nur klüger, sondern manchmal auch demütiger.
Vor dem Leben. Und dem Tod.