Das Overton-Fenster – Wie man Unvorstellbares legalisiert

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Nur ein Gedankenexperiment?


Der amerikanische Soziologe Joseph P. Overton (1960-2003) beschrieb eine Technik zur
Änderung der Einstellung einer Gesellschaft zu Dingen, die zuvor als absolut inakzeptabel galten.


Laut der Overton-Fenster-Theorie gibt es für jede Idee / jedes Problem in der Gesellschaft ein sogenanntes Fenster der Möglichkeiten. Innerhalb dieses Fensters besteht die Option, eine Idee breit zu diskutieren, sie öffentlich zu unterstützen, zu fördern und zu versuchen, sie schließlich als Gesetz zu verankern. Durch das Verschieben des Fensters ändert sich die Bandbreite der Möglichkeiten von «undenkbar» (der öffentlichen Moral völlig entgegengesetzt) bis hin zu «aktuelle Politik» (breit diskutiert, von der großen Masse akzeptiert und gesetzlich verankert).
Wir reden hier nicht über herkömmliche Gehirnwäsche, sondern von einer sehr viel subtileren
Manipulationstechnik. Sie ist so effektiv durch die konsequente, systematische Anwendung und
dadurch, dass die Beeinflussung an sich durch die Opfer-Gesellschaft gar nicht wahrgenommen
wird.
Wir zeigen an einem Beispiel, wie eine Gesellschaft Schritt für Schritt beginnt, zuerst über etwas
Verwerfliches zu diskutieren, dann dieses als angemessen zu betrachten, um es schließlich zu
akzeptieren. Letztlich wird es in einem Gesetz verankert, dass das einst Undenkbare schützt.
Nehmen wir als Beispiel etwas völlig Unvorstellbares. Nehmen wir an, es sollte ein legitimes Recht
auf Kannibalismus, also auf den Verzehr von Menschen geben. Für uns eine unglaubliche
Vorstellung.
Jedem ist völlig klar, dass es gegenwärtig (2014) keine Möglichkeit gibt, Kannibalismus zu
propagieren — die Gesellschaft würde auf die Barrikaden gehen. Diese Situation bedeutet, dass
sich das Thema der Legalisierung des Kannibalismus momentan in der Null-Phase des Fensters der
Möglichkeiten befindet. Diese Phase wird nach der Overton-Theorie als «Undenkbar»

bezeichnet. Konstruieren wir nun, wie dieses Undenkbare realisiert wird, indem es alle Phasen des
Fensters der Möglichkeiten durchläuft.



Technologie
Es muss betont werden, dass Overton eine Technik beschrieb, die es ermöglicht, jede beliebige Idee zu legalisieren. Beachten Sie! Er hat damit nicht nur ein Konzept angeboten oder lediglich seine Gedanken formuliert — er beschrieb vielmehr eine funktionierende Technologie, eine Abfolge von Maßnahmen, deren Ausführung unweigerlich zum gewünschten Ergebnis führt. Als Waffe zur Zerstörung menschlicher Gemeinschaften kann diese Technik letztlich effektiver als eine Atombombe sein.


Das ist aber mutig!
Kannibalismus gilt in unserer Gesellschaft als abstoßend und völlig inakzeptabel. Diskussionen
über dieses Thema sind unerwünscht, sowohl in der Presse als auch im Bekanntenkreis. Bisher ist es ein undenkbares, absurdes, verbotenes Phänomen. Wenn man Kannibalismus „salonfähig“ machen will, muss man innerhalb des Overton-Fensters zunächst eine Bewegung von «undenkbar» zu «radikal» vornehmen. Wie könnte man das angehen? Nun, wir haben doch Meinungsfreiheit. Warum sollten wir nicht einmal über Kannibalismus reden?
Es ist ja geradezu die Pflicht der Wissenschaftler, über alles zu reden und zu diskutieren. Für sie gibt es keine Tabus, sie müssen alles erforschen. Man könnte also ein wissenschaftliches Symposium zum Thema «Exotische Rituale der Ureinwohner Polynesiens» durchführen. Ein solches Symposium untersucht die Geschichte des Kannibalismus und führt das Thema in den
Wissenschaftsbetrieb ein. Somit erhält man Aussagen über den Kannibalismus von
wissenschaftlichen Autoritäten. Und siehe da, über Kannibalismus kann man also durchaus
sachlich reden und dabei innerhalb der wissenschaftlichen Seriosität bleiben.
Es ist also bereits Bewegung in das Overton-Fenster gekommen. Die Positionen beginnen sich zu verändern. Damit ist der Übergang von einer unversöhnlich-negativen Haltung der Gesellschaft zu einer positiveren Haltung in Gang gesetzt worden. Gleichzeitig mit einer wissenschaftsnahen Diskussion sollte auch unbedingt so etwas wie eine «Gesellschaft der radikalen Kannibalen» entstehen. Wenn auch zunächst nur im Internet — so werden doch dadurch die radikalen Kannibalen auf jeden Fall bemerkt und in den wesentlichen Massenmedien zitiert.


Zum Einen ist das eine weitere Möglichkeit der Publikation. Zum Anderen werden diese
schockierenden Monster benötigt, um das Bild eines radikalen Schreckgespenstes an die Wand zu malen. Das sind dann die «schlechten Kannibalen», die man einem anderen Schreckgespenst gegenüberstellt — den «Faschisten, die zur Vernichtung all derer aufrufen, die anders sind als sie». Aber zu den “Schreckgespenstern” kommen wir später. Zunächst reicht es aus, Geschichten darüber zu veröffentlichen, was britische Wissenschaftler und einige radikale Monster über das Essen von Menschenfleisch denken.

1️⃣Das Ergebnis der ersten Bewegung des Overton-Fensters: ein inakzeptables Thema wurde in
Umlauf gebracht, ein Tabu gebrochen die Eindeutigkeit des Problems wurde aufgebrochen und
gewisse „Grauzonen“ geschaffen.


Warum eigentlich nicht?
2️⃣Im nächsten Schritt bewegt sich das Fenster weiter und bringt das Thema Kannibalismus aus dem radikalen Bereich in den Bereich des Möglichen. In dieser Phase zitieren wir weiter
«Wissenschaftler». Man darf ja dem Wissensdrang keine Grenzen setzen.
Über den Kannibalismus.
Wer sich weigert, den Kannibalismus zu erörtern, muss als bigott und heuchlerisch abgestempelt werden. Dabei müssen wir dem Kannibalismus unbedingt einen eleganten Namen geben, damit diese ganzen Faschisten nicht auf die Idee kommen, dieses „K-Wort“ auf Andersdenkende anzuwenden.
Achtung! Die Schaffung eines Euphemismus ist ein sehr wichtiger Punkt. Für die Legalisierung
einer undenkbaren Idee muss ihr ursprünglicher Name geändert werden. Wir reden nicht mehr
von Kannibalismus, sondern, zum Beispiel, von Anthropophagie. Aber auch diese Bezeichnung
wird schnell wieder geändert, weil man auch sie als diskriminierend empfindet.
Das Ziel der Erfindung neuer Begriffe ist es, das Wesen eines Problems aus seiner Bezeichnung
herauszulösen, Form und Inhalt eines Wortes zu trennen und so die ideologischen Gegner ihrer
Sprache zu berauben.
Kannibalismus verwandelt sich in Anthropophagie und danach in Anthropophilie — so wie ein
Verbrecher seinen Namen ändert und gefälschte Ausweise benutzt.
Parallel zu dem Spiel mit den Begriffen wird ein Präzedenzfall herangezogen – mit einem
historischen, mythologischen,aktuellen oder einfach nur erfundenen, aber Hauptsache legitimen, Hintergrund. Dieser Fall wird gefunden oder erfunden als «Beweis» dafür, dass Anthropophilie im Prinzip legitimiert werden kann.

Erinnert sei

  • «an die Legende über die sich aufopfernde Mutter, die mit ihrem Blut ihre vor Durst sterbenden
    Kinder gerettet hat.»
  • «an die Geschichte der antiken Götter, die alle gegessen haben, die ihnen über den Weg liefen. Bei
    den Römern war das Normalität!»
  • «und an die uns näherstehenden Christen. Bei ihnen gehört Antropophilie zum guten Ton! Bei
    ihren Ritualen trinken sie das Blut und essen das Fleisch ihres Gottes bis heute. Und wer sind Sie
    denn, dass Sie die christliche Kirche für irgend etwas beschuldigen wollen??»
    Die Hauptaufgabe in dieser Etappe ist es, das Verspeisen von Menschen vor strafrechtlicher
    Verfolgung zu bewahren — wenigstens teilweise, zumindest in einem Fall und zumindest in einem
    bestimmten historischen Kontext.

    So muss es auch sein
    3️⃣ Nachdem ein legitimierender Präzedenzfall geschaffen wurde, besteht nun die Möglichkeit, das
    Overton-Fenster aus dem Bereich des «Möglichen» in den Bereich des «Rationalen» zu
    bewegen. Das ist die dritte Etappe.
  • Hier wird das Problem in kleine Teilstücke zerlegt.
  • «Der Wunsch, Menschen zu essen, ist genetisch bedingt, es liegt in der Natur des Menschen»
  • «Manchmal ist man gezwungen, Menschen zu essen, es gibt Notsituationen»
  • «Es gibt Leute, die wollen gegessen werden»
  • «Anthropophile wurden provoziert»
  • «Die verbotene Frucht lockt immer»
  • «Der freie Mensch hat das Recht zu entscheiden, was er isst»
  • «Halten Sie die Informationen nicht zurück und lassen Sie jeden selbst herausfinden, ob er
    anthropophil oder anthropophob ist»
  • «Richtet Anthropophilie denn überhaupt Schaden an? Es ist nicht bewiesen, dass sie zwingend
    schädlich ist».

Im öffentlichen Bewusstsein wird künstlich ein «Schlachtfeld» um das Problem geschaffen. An
den äußeren Flanken werden Schreckgespenster aufgestellt: die speziell zu diesem Zweck
erschienenen radikalen Anhänger und Gegner des Kannibalismus. Und die echten Gegner

— die normalen Menschen, die der Enttabuisierung des Kannibalismus nicht gleichgültig zusehen wollen
— versucht man, mit diesen Schreckgespenstern in einen Topf zu stecken und als radikale Hasser
darzustellen. Mit Hilfe dieser Gespenster wird aktiv ein Bild verrückter Psychopathen erschaffen
— aggressive Faschisten, Hasser der Anthropophilie, die alle Kannibalen, Juden, Kommunisten
und Neger bei lebendigem Leibe verbrennen wollen. Dabei wird allen Erwähnten die
Medienpräsenz gewährleistet, außer den wirklichen Gegnern der Legalisierung des Kannibalismus.

Bei dieser Vorgehensweise bleiben die sogenannte Antropophilen gleichsam in der Mitte zwischen
den Schreckgespenstern, auf dem «Boden der Vernunft», von wo aus sie mit dem ganzen Pathos
der «Vernunft und Menschlichkeit» die «Faschisten aller Art» verurteilen.
In dieser Phase beweisen «Wissenschaftler» und Journalisten, dass die Menschheit im Laufe ihrer
Geschichte sich von Zeit zu Zeit gegenseitig aufgegessen hat, und dass das normal ist. Das Thema
der Antropophilie kann nun aus dem Bereich des «Rationalen» in die Kategorie des
«Populären» gebracht werden. Das Overton-Fenster bewegt sich weiter.

Im besten Sinne
4️⃣ Zur Förderung der Popularität des Themas Kannibalismus muss es mit Pop-Content unterstützt
werden, verbunden mit historischen und mythologischen Personen und, wenn möglich, mit
bekannten Medien-Persönlichkeiten der Gegenwart. Anthropophilie dringt massiv in die
Nachrichten und Talkshows ein. In Kinofilmen, in Songtexten und Musikvideos — überall
werden Menschen gegessen.
Einer der Tricks der Popularisierung heißt: «Schauen Sie sich um!»

«Wussten Sie nicht, dass ein bekannter Komponist ähm Sie wissen schon… ein Anthropophiler
ist?»

«Und ein bekannter polnischer Schriftsteller war sein Leben lang ein Antropophiler und wurde
sogar dafür verfolgt.»

«Wie viele von denen in der Psychiatrie weggesperrt wurden! Wie viele Millionen wurden
ausgewiesen und haben ihre Staatsangehörigkeit verloren!..
Übrigens, wie finden Sie den neuen Clip von Lady Gaga «Eat me, baby»? In dieser Phase wird das
Thema zu einem TOP-Thema und beginnt, sich selbständig in den Medien, im Showbusiness und
in der Politik zu entfalten.


Eine weitere effiziente Technik ist, die Thematik in Talk-Shows mit Journalisten, Moderatoren,
Aktivisten usw. zu „diskutieren“ und Experten vom Diskurs auszuschließen. Dann, in dem
Moment, wenn sich jeder schon langweilt und die Diskussion über das Problem in einer Sackgasse
angekommen ist, kommt ein speziell ausgewählter Profi dazu und sagt: «Meine Herren, in der Tat
ist es nicht so, sondern so. Und man soll es so-und-so machen» — und gibt damit eine bestimmte
Richtung vor, die der Tendenz der Bewegung des «Fensters» entspricht.
Zur Rechtfertigung der Befürworter der Legalisierung verleiht man den Verbrechern ein positives
Image über Eigenschaften, die mit dem Verbrechen nichts zu tun haben.

«Es sind doch kreative Menschen. Er hat nur seine Frau gegessen, na und?»

«Sie lieben ihre Opfer aufrichtig. Essen heißt Liebe!»

«Anthropophile haben einen erhöhten IQ und in anderen Angelegenheiten sind sie sehr
moralisch»

«Anthropophile sind selbst Opfer, das Leben hat sie dazu gezwungen»

«Sie wurden so erzogen», etc.


Solche Stories sind das Salz in der Suppe der beliebten Talkshows. «Wir erzählen Ihnen eine
tragische Liebesgeschichte! Er wollte sie essen! Und sie wollte gerne von ihm gegessen werden! Wer
sind wir, um sie zu verurteilen? Vielleicht ist es Liebe? Wer sind Sie, um der Liebe im Wege zu
stehen?!»

Wir sind die Macht
5️⃣ Die fünfte Phase der Bewegung des Overton-Fensters beginnt, wenn das Thema so aufgeheizt ist,
dass man es aus der Kategorie «populär» in die Sphäre der «aktuellen Politik» verschieben
kann. Die Vorbereitung der rechtlichen Rahmenbedingungen wird in Angriff genommen.
Lobby-Gruppierungen konsolidieren sich und treten aus dem Schatten. Es werden soziologische
Umfragen veröffentlicht, die angeblich den hohen Anteil der Befürworter der Legalisierung von
Kannibalismus bestätigen. Politiker starten in ihren öffentlichen Äußerungen “Probewürfe” zur
gesetzlichen Verankerung dieses Themas. In das öffentliche Bewusstsein wird ein neues Dogma
eingeführt — «das Verbot des Verzehrs von Menschen ist verboten». Dies ist eine Spezialität des
Liberalismus — Toleranz als Verbot von Tabus, das Verbot der Korrektur und der Warnung vor
den für die Gesellschaft verheerenden Fehlentwicklungen.


6️⃣In der letzten Phase, dem Wechsel von der Kategorie «populäre» zu «aktuelle Politik», ist die
Gesellschaft bereits gebrochen. Ihre aktivsten Mitglieder werden noch versuchen, sich der
gesetzlichen Fixierung von Dingen zu widersetzen, die vor nicht allzulanger Zeit noch
unvorstellbar waren. Aber im Großen und Ganzen ist die Gesellschaft gebrochen. Sie hat ihre
Niederlage bereits akzeptiert. Gesetze sind erlassen, die Normen der menschlichen Existenz sind
geändert (zerstört). Nunmehr wird dieses Thema unvermeidlich die Kindergärten und Schulen
erfassen. Die nachfolgende Generation wird geprägt und bekommt keine Chance zum Überleben.


Wie bricht man diese Technik
Das von Overton beschriebene Fenster der Möglichkeiten lässt sich am einfachsten in einer
toleranten Gesellschaft verschieben. In einer Gesellschaft, die keine Ideale hat und, als Folge davon,
auch keine klare Trennung zwischen Gut und Böse. Sie wollen darüber sprechen, dass Ihre Mutter
eine Hure ist? Möchten Sie darüber einen Artikel in einer Zeitschrift veröffentlichen? Einen Song
darüber schreiben und singen? Oder beweisen, dass es normal und sogar notwendig ist, eine Hure
zu sein?


Das ist genau die oben beschriebene Technik. Sie stützt sich auf die Freizügigkeit. Es gibt keine
Tabus. Nichts ist heilig. Es gibt keine heiligen Ideen, bei denen sich selbst eine Diskussion darüber
verbietet und bei denen sofort eingeschritten wird, wenn sie in den Dreck gezogen werden. Und
was gibt es stattdessen? Es gibt die sogenannte “Meinungsfreiheit”, umgewandelt in die Freiheit der
Entmenschlichung. Vor unseren Augen werden die Grenzen aufgehoben, die die Gesellschaft
bislang vor der Selbstzerstörung bewahrt haben — eine nach der anderen. Jetzt ist der Weg dahin
frei.

Du denkst, Du alleine kannst nichts ändern? Du hast vollkommen recht, allein kann man nichts!
Aber Du persönlich bist verpflichtet, ein Mensch zu bleiben. Und ein wahrhafter Mensch ist in der
Lage, eine Lösung für alle Probleme zu finden. Und was er alleine nicht schafft, werden die
Menschen, vereint durch eine gemeinsame Idee, schaffen.
Schau Dich um!


Fonds Konzeptueller Technologien

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