„Die Moral der Marschflugkörper – Warum der Wertewesten immer wieder Kriege findet“

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Sie predigen „regelbasierte Ordnung“. Sie beschwören „Souveränität“ und „territoriale Integrität“. Und sie versichern, dass niemand das Recht habe, ein anderes Land anzugreifen. Das sind die heiligen Wörter des Wertewestens – bis er selbst zum Marschflugkörper greift. Dann wird aus „Nie wieder Angriffskrieg“ im Handumdrehen „Diesmal ist es etwas anderes“. Meist heißt dieses „Andere“: Humanität, Demokratie, Terrorbekämpfung. Und zufällig liegen am Ende der Bombenroute Rohstoffe, Korridore, Einflusszonen.

Schauen wir nüchtern hin: Vom Iran 1953 bis zum Irak 2003, von Grenada über Panama bis Libyen und Syrien – überall taucht die gleiche Dramaturgie auf. Erst wird moralisch aufgeladen, dann militärisch entladen. Erst kommt die große Erzählung vom Bösen, das man stoppen müsse; danach kommen Sanktionen, Spezialkräfte, Drohnen, „No-Fly-Zones“, „begrenzte“ Luftschläge. Und wenn der Rauch sich legt, ist der „begrenzte“ Einsatz plötzlich grenzenlos: Jahre, Jahrzehnte. „Mission accomplished“ – nur dass die Mission nie aufhört.

Die drei Lieblingsmasken westlicher Gewaltpolitik

  1. Humanität als Hebel: Wo die Kameras laufen und das Grauen sichtbar ist, lässt sich die Öffentlichkeit mit der Forderung nach „sofortigem Eingreifen“ mobilisieren. Dass man ohne UN-Mandat handelt, wird später ein Fußnotendrama für Juristen.
  2. Demokratie als Exportgut: Regimewechsel als Care-Paket – gern dort, wo Pipelines, Häfen und Ölquellen auf der Landkarte die Augen glänzen lassen. Demokratie ist dann wie Fast Food: schnell geliefert, schlecht verträglich, hinterlässt Trümmer.
  3. Terror als Joker: „Nationale Sicherheit“ rechtfertigt alles – von gezielten Tötungen bis zu Bombardements in rechtlichen Grauzonen. Drohnen ersetzen Verfahren, die Unschuldsvermutung wird outgesourct.

Ergebnisbilanz: Scherbenhaufen

  • Staatenzerfall: Libyen wurde von der reichsten Nation Afrikas zum Waffenbasar. Der Irak verwandelte sich in ein Schlachtfeld, aus dem der IS erwuchs. Afghanistan endete da, wo es angefangen hatte – nur mit weit mehr Gräbern.
  • Zivile Opfer & Traumata: „Kollateralschaden“ ist das freundlichste Wort für das, was zurückbleibt.
  • Sicherheitsillusion: Jeder „chirurgische“ Schlag zieht neue Radikalisierung nach sich. Aus jeder beseitigten Hydra wächst eine neue.

Der Fall Venezuela: Lehrstück mit Ansage

Natürlich geht es offiziell um Demokratie, Menschenrechte oder – besonders beliebt – „Drogenbekämpfung“. Praktisch jedoch kreuzen US-Schiffe in der Karibik, Spezialeinheiten „sichern“ Seewege, und Washington dreht die Sanktionsschrauben. Warum gerade dort? Weil Venezuela über die größten bestätigten Ölreserven der Welt verfügt. Weil ein eigenständiger Kurs in Lateinamerika stets als Provokation gilt. Weil ein Regimewechsel an der Karibikküste geostrategisch „schön“ auf der Schachtafel liegt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt? Nein – nur jemand, der Karten lesen kann.

Doppelmoral als System

Der Westen pocht auf Regeln – solange sie für andere gelten. Wenn es eng wird, heißt es „Ausnahme“, „Sonderlage“, „einmaliger Präzedenzfall“. So wird das Völkerrecht vom Schutzschild zum Schweizer Käse. Und weil Medien oft brav die Regierungsnarrative recyceln („präzise Luftschläge“, „verantwortungsvolle Führung“), fehlt der Öffentlichkeit der Sauerstoff zum Widerspruch.

Was wäre die erwachsene Alternative?

  • Souveränität ernst nehmen – auch wenn Regierungen uns nicht gefallen.
  • Energiepolitik entmilitarisieren – Diversifizierung statt Destabilisierung.
  • Recht vor Macht – UN-Mandate, echte Beweise, klare Grenzen für Einsätze.
  • Drogenpolitik zuhause reparieren – Nachfrage senken statt Kriege exportieren.
  • Transparenzpflicht – Kriege müssen politisch ungemütlich sein, nicht PR-glatt.

Fazit

Der Wertewesten findet immer Gründe für Gewalt – notfalls erfindet er welche. Solange Marschflugkörper als moralische Argumente gelten, werden Staaten fallen, Menschen sterben und Regionen veröden. Wer wirklich „Werte“ verteidigen will, muss zuerst dem eigenen Spiegelbild standhalten. Andernfalls bleibt von der regelbasierten Ordnung nur das: Regeln für die Schwachen, Ausnahmen für die Starken – und über allem der dröhnende Soundtrack der Heuchelei.



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