Ein monumentales Werk – und ein zäher Brocken
Wer sich heute an Fjodor Dostojewskis Schuld und Sühne wagt, der nimmt nicht einfach einen Roman zur Hand, sondern ein Mammutwerk der Weltliteratur – schwer im Gewicht, schwer im Inhalt und schwer im Zugang. Das Buch ist alles andere als ein schneller Pageturner – eher ein moralisches Gebirge, das man mit Blasen an den Füßen und brennendem Schädel erklimmt. Und doch lohnt es sich. Vielleicht gerade deswegen.
Inhalt: Ein Mord – und das Gewissen als Richter
Im Zentrum steht der verarmte Petersburger Student Rodion Raskolnikow, der eine alte Pfandleiherin ermordet, weil er sich für ein “außergewöhnliches” Individuum hält – einer, der das moralische Gesetz brechen darf, um Gutes zu bewirken. Doch statt Erlösung findet er nur Schuld. Und Wahnsinn.
Was wie ein Krimi beginnt, wird schnell zur psychologischen Achterbahnfahrt, zur theologischen Abhandlung, zur moralphilosophischen Geduldsprobe.
Sprache: Sperrig, verdreht, altmodisch – und genial
Selbst in der besten deutschen Übersetzung ist Schuld und Sühne keine leichte Kost. Die Figuren reden in Schachtelsätzen, wiederholen sich in einer Mischung aus Pathos, Wahnsinn und rätselhafter Unterwürfigkeit.
Das wirkt heute oft unfreiwillig komisch oder schlicht anstrengend:
„Was wollte ich eigentlich sagen? Ach ja, Sie wissen ja… ich meinte nur… also wenn man bedenkt… und, äh, entschuldigen Sie…“
So oder so ähnlich liest man sich Seite für Seite durch Dialoge, die oft mehr aus nervösen Andeutungen als aus tatsächlichen Aussagen bestehen.
Die russische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts wirkt auf heutige Leser wie von einem anderen Stern. Diese tiefsitzende Scham, diese Demut vor Rang und Titel, dieses ewige, theatralische Schwanken zwischen Reue und Trotz – es ist faszinierend und befremdlich zugleich.
Figuren: Alle am Limit
Kaum eine Figur ist psychisch stabil. Jeder scheint zwischen Größenwahn, Mitleid, Selbsthass und religiösem Irrsinn zu schwanken.
Raskolnikow ist kein Sympathieträger, sondern ein fiebriger Geist, gefangen im eigenen Kopf. Seine Mutter und Schwester – bemitleidenswert. Der Ermittler Porfiri – klug, aber undurchsichtig. Die Prostituierte Sonja – das moralische Zentrum, doch aus heutiger Sicht beinahe ein Heiligenklischee.
Und trotzdem: Jede Figur ist mit solcher Tiefe gezeichnet, dass man nicht anders kann, als sich hineinzuziehen lassen – ob man will oder nicht.
Lebenswelt: Ein untergehendes Reich
Dostojewskis St. Petersburg ist düster, krank, chaotisch. Die Menschen hungern, lügen, lieben, beten und verfallen dem Alkohol. In den Wohnungen stinkt es nach Armut und Verzweiflung. Man lebt auf engem Raum, belauert sich, verliert sich in Grübeleien.
All das wirkt heute wie eine andere Welt – und ist es auch. Doch gerade diese Fremdheit macht Schuld und Sühne so interessant: Wir schauen in einen Spiegel, der uns zeigt, wie sehr sich Moral, Gesellschaft und Identität verändert haben – oder eben doch nicht?
Fazit: Ein Werk, das Leiden verlangt – aber auch belohnt
Ja, dieses Buch ist schwer zu lesen. Es fordert Geduld, Konzentration und eine gewisse masochistische Lust am Grübeln. Aber es gibt kaum ein Werk, das Schuld, Reue, Gerechtigkeit und Gnade so tief auslotet wie dieses.
Dostojewski ist kein Autor, der unterhält – er prüft seine Leser. Und wer durchhält, wird nicht belohnt im klassischen Sinne, sondern geläutert.
Empfehlung: Für Leser mit langer Aufmerksamkeitsspanne, starkem Interesse an Psychologie, Philosophie – und einem gewissen Hang zur russischen Schwermut.
Bewertung: ⭐⭐⭐⭐☆ (4 von 5) – Ein Meilenstein der Literaturgeschichte, aber definitiv nichts für den Strandurlaub.
Und zum Schluss:
Wissen Sie, wann man endlich mal die Zeit findet, solche Bücher zu lesen? Im Alter.
Wenn der Alltag langsamer wird, die Termine weniger und das Handy nicht mehr dauernd piepst.
Jetzt ist der Moment gekommen, Dinge nachzuholen, die man ein Leben lang aufgeschoben hat. Große Bücher zu lesen zum Beispiel. Und ja – auch solche Brocken wie Schuld und Sühne.
Lesen bildet. Wussten Sie das?
Und manchmal heilt es auch. Vielleicht nicht die Sünde, aber wenigstens das Denken.