Warum digitaler Fortschritt nicht alle mitnimmt – und was das über unsere Gesellschaft sagt
„Ich stehe am Geldautomaten, die Brille auf der Nase, die Hände zittern leicht. Früher ging ich einfach zum Schalter, sprach mit der Dame, die meinen Namen kannte, und sie erledigte alles für mich. Heute gibt es diesen Schalter nicht mehr. Heute gibt es nur noch Maschinen und Bildschirme.
Überweisungen? Online. Kontoauszüge? Online. Beratung? Nur noch nach Termin, per App gebucht. Aber ich habe kein Smartphone, ich habe nie eines gebraucht. Und nun stehe ich hier – mitten in einer Welt, die mir fremd geworden ist.
Ich höre die Stimmen um mich herum: ‚Das ist doch ganz einfach, man muss nur klicken.‘ Einfach? Für mich bedeutet es Stress, Angst, das Gefühl, etwas falsch zu machen. Einmal habe ich mich vertippt, und das Geld war weg. Wochenlang hat es gedauert, bis es zurückkam.
Ich habe mein Leben lang gearbeitet, gespart, vertraut. Und jetzt, im Alter, fühle ich mich ausgeschlossen – nicht, weil ich nicht will, sondern weil ich nicht mehr mitkomme.“
Die schöne neue Welt – ohne Menschen
Wir leben in einer Zeit, in der Banken Filialen schließen, Supermärkte auf Selbstbedienungskassen umstellen, Verkehrsverbünde KI-gestützte Ticketautomaten testen und der erste Ansprechpartner kein Mensch, sondern ein Chatbot ist. Fortschritt nennt man das.
Die Werbung verspricht uns: Alles wird einfacher, schneller, smarter.
Doch für wen eigentlich? Für die, die mit Smartphone und Apps aufgewachsen sind – ja. Für den 75-Jährigen, der gerade einmal eine Bankkarte hat – nein.
Digitaler Fortschritt – digitaler Ausschluss
Es ist kein Luxusproblem. Wer nicht digital mitkommt, ist heute schnell abgehängt:
- Bankgeschäfte: Ohne Onlinebanking sind Überweisungen oft nur noch mit teuren Papierformularen möglich.
- Nahverkehr: Tickets am Automaten sind komplex, bar zahlen wird schwieriger.
- Behörden: Viele Anträge sind nur noch online zu stellen – oder nach Online-Terminvereinbarung.
- Supermarkt: Kassierer verschwinden, man soll selbst scannen, selbst zahlen, selbst alles richtig machen.
Das Ergebnis: Viele ältere Menschen fühlen sich unsicher, abhängig, ja sogar gedemütigt. Wer einmal mit zittrigen Fingern den falschen Knopf gedrückt hat, geht beim nächsten Mal mit Angst in die Bank – wenn er überhaupt noch geht.
Was macht das mit uns als Gesellschaft?
Die viel beschworene „digitale Transformation“ ist nicht nur eine technische, sondern eine soziale Frage. Sie entscheidet, wer mitgenommen wird – und wer zurückbleibt.
Eine Gesellschaft, die ihre Älteren aus dem Alltag ausschließt, verliert mehr als nur Kunden. Sie verliert Vertrauen, Respekt, Menschlichkeit.
Wir haben es uns angewöhnt, alles zu optimieren: Kosten runter, Prozesse schneller. Aber wo bleibt der Mensch? Fortschritt, der die Schwächsten nicht mitnimmt, ist kein Fortschritt – es ist ein Rückschritt.
Fazit: Fortschritt braucht Menschlichkeit
Natürlich können wir die Zeit nicht zurückdrehen. Aber wir können sie menschlicher gestalten. Banken könnten wieder einfache Services am Schalter anbieten – vielleicht an einem Vormittag in der Woche. Supermärkte könnten immer eine bemannte Kasse offen lassen. Verkehrsbetriebe könnten einen Notfallknopf für Menschen einbauen, die nicht mit der Maschine klarkommen.
Es geht nicht um Nostalgie. Es geht um Würde.
Und die sollte man nicht zwischen Touchscreen und PIN-Eingabe verlieren.