Requiem für Berthold Storfer – Im Schatten der Gerechten
Es gibt Menschen, die leise Großes tun. Menschen, die in der Geschichte nicht den Platz einnehmen, der ihnen gebührt, weil ihre Lebensrealität nicht in das schlichte Raster von Gut und Böse passt, das wir uns zur moralischen Beruhigung zurechtgelegt haben. Berthold Storfer war ein solcher Mensch. Sein Name ist selten zu hören, seine Taten weitgehend vergessen – und das ist ein historisches wie moralisches Versagen.
Ein Leben voller Wendungen
Berthold Storfer wurde 1880 in Botoșani, Rumänien, geboren, zog später nach Wien und war dort als erfolgreicher Geschäftsmann, Intellektueller und Journalist tätig. In der pulsierenden Hauptstadt der Habsburgermonarchie bewegte er sich in gebildeten Kreisen, war kulturell engagiert und galt als weltoffener Geist. Bis zum März 1938.
Mit dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland änderte sich sein Leben von einem Tag auf den anderen. Als Jude wurde er entrechtet, enteignet, gedemütigt – wie Hunderttausende andere. Doch statt zu resignieren, begann Storfer, seine organisatorischen Fähigkeiten in den Dienst derjenigen zu stellen, die nun verfolgt wurden wie Tiere.
Shanghai – eine Stadt der Hoffnung
Zwischen 1938 und 1941 war Shanghai einer der ganz wenigen Orte auf der Welt, die jüdische Flüchtlinge ohne Visum aufnahmen. Für viele war es die letzte Hoffnung. Die Stadt wurde zur Lebensrettung – aber nur, wenn man es irgendwie schaffte, dorthin zu gelangen. Hier kommt Storfer ins Spiel.
Er wurde Teil der Israelitischen Kultusgemeinde Wiens und später der von Eichmann erzwungenen Zentralstelle für jüdische Auswanderung. Diese Einrichtung war ein perverses Konstrukt: von den Nazis eingerichtet, von Juden betrieben, um andere Juden „zur Auswanderung“ zu bringen – ein Euphemismus für das, was später zur Deportation in den Tod wurde.
Doch in diesen ersten Jahren vor dem systematischen Massenmord war es tatsächlich noch möglich, Menschen aus dem Land zu bringen – wenn man Organisationstalent, Kontakte und Nerven wie Drahtseile hatte. Berthold Storfer hatte all das. Er arrangierte Schiffspassagen, sammelte Gelder, beschaffte Papiere, löste Visa-Probleme und kämpfte wie ein Besessener gegen die mörderische Zeit.
Der Preis des Handelns
Er war dabei gezwungen, mit den Nazis zu kooperieren – oder besser gesagt: zu überleben und aus einem unmenschlichen System heraus Menschlichkeit zu schaffen. Genau das ist es, was ihm später zum Verhängnis wurde. In der Erinnerungskultur der Nachkriegszeit galt er vielen als Teil eines „Judenrates“, als Funktionär, als Mitläufer. Welch infame Verdrehung.
Denn Storfer hat nicht deportiert, er hat gerettet. Er war kein Werkzeug, sondern ein Störfaktor für die Nazis. So sehr, dass sie ihn schließlich selbst verhafteten, nach Theresienstadt deportierten und weiter nach Auschwitz schickten, wo er 1943 ermordet wurde – wie so viele, die nicht mehr nützlich waren. Das System frisst auch jene, die es zeitweise duldete.
Das Schweigen danach
Nach dem Krieg wurde Storfer nicht gedacht. Kein Denkmal, keine Schule, keine Straße trägt seinen Namen. Während man Oskar Schindler, Raoul Wallenberg oder Aristides de Sousa Mendes – zu Recht – als Helden feiert, bleibt Storfer unerwähnt. Warum?
Weil seine Geschichte unbequem ist. Weil sie Ambivalenzen enthält, mit denen wir schwer umgehen können. Er war kein von außen kommender Retter, kein Christ, kein Diplomat mit Visastempeln. Er war ein Jude, der innerhalb eines jüdischen Apparats funktionierte, der wiederum von Nazis aufrechterhalten wurde. Das allein reichte für viele, um ihn moralisch zu diffamieren.
Man redete sich ein, wer innerhalb des Systems tätig war, sei Teil des Systems gewesen – ungeachtet dessen, was er tatsächlich tat. Das ist nicht nur eine historische Unwahrheit, sondern eine moralische Bankrotterklärung.
Die Absurdität der Beurteilung
Man stelle sich vor: Ein Mann, der Tausende rettet, wird vergessen. Nicht etwa, weil seine Taten unbedeutend wären – sondern weil sie sich nicht sauber erzählen lassen. Weil man sich daran stoßen könnte, dass jemand überleben wollte und zugleich andere rettete. Als ob man je in einer solchen Lage gewesen wäre.
Dieses Urteil über Storfer zeigt das ganze Elend unserer Nachkriegs-Erinnerung: Sie ist selektiv, sie ist bequem, sie liebt klare Helden und eindeutige Bösewichte. Ambivalente Gestalten stören da nur. Lieber lässt man sie fallen – wie Storfer. Das ist verlogen. Das ist feige. Und es wird seiner nicht gerecht.
Warum sein Name genannt werden muss
Berthold Storfer war ein jüdischer Funktionär. Aber mehr noch war er ein menschlicher Funktionär. Er hat nicht nur Überlebenslisten erstellt, er hat Hoffnung vermittelt, Wege gefunden, Not gelindert. Er hat das Unmögliche versucht, und oft genug geschafft.
Er tat das, obwohl er wusste, dass er selbst kaum eine Chance hatte. Und doch arbeitete er bis zuletzt, oft gegen Widerstände aus der eigenen Gemeinde, gegen den Terror der SS, gegen die Untätigkeit der Welt. Wer das nicht anerkennt, hat das Wesen der Menschlichkeit nicht verstanden.
Ein letzter Gruß
„Wer ein einziges Leben rettet, hat die ganze Welt gerettet“, heißt es im Talmud.
Berthold Storfer rettete viele Welten. Und doch blieb seine eigene im Dunkel. Es ist an der Zeit, dieses Unrecht zu benennen. Es ist an der Zeit, zu sagen, was gesagt werden muss: Dieser Mann war ein Gerechter.
Nicht trotz, sondern wegen der Umstände, in denen er handelte.
Nicht obwohl, sondern weil er das System von innen heraus nutzte, um Leben zu bewahren.
Nicht weil er perfekt war, sondern weil er Mensch blieb in einer Zeit, in der das kaum möglich war.
Berthold Storfer (1880–1943): Möge Dein Name nicht länger schweigen. Möge er leuchten – als Warnung und als Vorbild.