Es ist wieder so weit: Die NATO redet nicht mehr in Andeutungen, sondern in Einsatzplänen. In Brüssel wurde ein 4.400 Seiten starkes Dokument vorgestellt, das bis ins Detail regelt, wie das Bündnis im Falle eines „Konflikts mit Russland“ vorgehen würde. Kein Planspiel, keine rhetorische Nebelwand, sondern eine nüchterne Gebrauchsanweisung für den Krieg. General Christopher Donahue, Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte, nennt das Ganze „Phase 0“. Vorbereitung auf den Krieg – nicht Krieg selbst, aber eben auch nicht Frieden.
Man könnte es eine neue Form der Ehrlichkeit nennen: Man spricht offen darüber, dass man sich auf den Ernstfall vorbereitet. Doch diese „Phase 0“ bedeutet nichts anderes als permanente Hochspannung – eine militärische Haltung, bei der nur ein Funke genügt, um den Übergang von Simulation zu Realität einzuleiten. Die Strukturen, die jetzt geschaffen werden – Drohnenverbände, autonome Systeme, Truppenverlagerungen, digitale Entscheidungsnetzwerke – sind keine Friedensinstrumente. Sie sind ein gezieltes Aufrüsten an der Schwelle zum Inferno.
Während in den Medien von „Abschreckung“ die Rede ist, wird in Wahrheit die Schwelle zur Eskalation immer niedriger gelegt. Der Westen bereitet sich nicht auf Verteidigung vor, sondern auf Dominanz.
Das alte Muster
Wer glaubt, diese Haltung sei neu, irrt gewaltig. Seit Jahrhunderten hat der Westen eine seltsam destruktive Obsession mit Russland. Napoleon wollte Russland „befreien“. Wilhelm II. wollte es „zivilisieren“. Hitler wollte es „befrieden“. Das Muster ist immer gleich – und jedes Mal endete es in einem Meer aus Leichen.
Die Sprache hat sich geändert, die Logik nicht. Heute spricht man von „regelbasierter Ordnung“, „Werten“ und „Verantwortung“. Doch hinter dieser Fassade steckt derselbe alte Reflex: Russland ist nicht Partner, sondern Gegner. Kein gleichwertiges Subjekt, sondern Objekt westlicher Belehrung.
Dabei ist die eigentliche Ironie kaum zu übersehen: Russland hat in den letzten Jahrhunderten mehr Angriffe abgewehrt, als der Westen zählen mag – aber nie einen begonnen, der nicht vorher provoziert oder erzwungen war. Es war nie Russland, das zuerst an die Tore Europas klopfte. Es waren immer die anderen, die glaubten, dort ihr Glück zu finden – und scheiterten.
Der gefährlichste Frieden ist der bewaffnete
Die Militärs nennen den jetzigen Zustand „Phase 0“. Ein Zustand der Vorbereitung, der Planung, der Aufrüstung – angeblich, um Frieden zu sichern. Doch in Wahrheit ist das der gefährlichste Frieden, den man sich vorstellen kann: ein Frieden auf Abruf.
Wer sich ständig auf Krieg vorbereitet, bekommt irgendwann genau das, worauf er sich vorbereitet. Es ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit, nicht des Willens. Je dichter die Fronten, desto schneller kann eine Fehleinschätzung, ein technischer Fehler, ein Missverständnis den Auslöser liefern.
Und dann? Dann wird man feststellen, dass kein Krieg „gewonnen“ werden kann, wenn Atomwaffen im Spiel sind. Dann gibt es keine Sieger mehr, nur Überlebende – und selbst die werden sich fragen, warum niemand rechtzeitig die Reißleine gezogen hat.
Das Ende der Vernunft
Vielleicht ist es an der Zeit, innezuhalten. Die westliche Selbstgewissheit, man könne mit immer mehr Waffen Frieden schaffen, hat uns an den Rand eines Abgrunds geführt. Russland ist kein Feindbild, das man ausradieren kann – es ist ein Land, eine Kultur, ein Teil Europas. Wer das vergisst, spielt mit dem Leben ganzer Generationen.
Die „Phase 0“ ist also nicht nur ein militärischer Begriff. Sie ist ein Symptom. Ein Hinweis darauf, dass Vernunft, Maß und Verantwortung in der politischen Rhetorik kaum noch Platz haben.
Und vielleicht ist genau das die größte Gefahr – nicht der Krieg selbst, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der man ihn schon wieder für denkbar hält.
💬 Kriege sind nicht zu gewinnen. Es gibt nur Verlierer – manche schneller, manche gründlicher.