Paranoide Schizophrenie – Nachbetrachtung zur Netflix-Serie MONSTER: Das Leben des Edward Gein

Estimated read time 4 min read

Was bleibt, wenn der Abspann läuft? Wenn man sieben Folgen lang in einen Abgrund geschaut hat, der menschlicher ist, als einem lieb sein kann? Die neue Netflix-Serie MONSTER über Edward Gein – diesen unscheinbaren Farmer aus Wisconsin, der die Welt das Fürchten lehrte – ist mehr als ein gewöhnliches True-Crime-Format. Sie ist eine seelische Obduktion. Und sie schneidet tief.

Was Gein in den Jahren vor seiner Entdeckung tat, sprengte jedes Verständnis: Grabschändungen, die Präparation von Leichenteilen, Möbel und Lampenschirme aus Menschenhaut – ein makabrer Albtraum, der sich in sein Wohnzimmer materialisierte. Später folgten Morde. Nur zwei konnte man ihm zweifelsfrei nachweisen, doch wahrscheinlich war die Zahl höher. Das Unvorstellbare bekam plötzlich Struktur, Methode – fast wie ein Ritual.

Verurteilt, aber nie hingerichtet, verbrachte Gein sein restliches Leben in einer psychiatrischen Klinik. Dort, wo das „Monster“ zum Menschen wurde. Und genau das zeigt die Serie in schonungsloser, aber zugleich seltsam ruhiger Weise: die Entstehung des Abgrunds. Nicht als Entschuldigung – als Erklärung.

Der Horror bekommt ein Gesicht

MONSTER tut das, was die besten Werke ihres Genres wagen: Es schaut nicht weg. Es zoomt hinein. Nicht nur in die Tat, sondern in den Menschen. Und plötzlich ist da kein lauernder Dämon, keine dunkle Macht – sondern ein zerbrochener Geist, zerrissen zwischen Wahn, Schuld und religiösem Fanatismus. Ein Mann, der seine Mutter vergötterte und Frauen zugleich hasste, weil sie ihn an seine eigene Schwäche erinnerten.

Edward Gein, dieser sanfte, fast kindlich wirkende Mensch, ist das, was Psychologen als paranoid schizophren beschreiben. Stimmen im Kopf, Realitätsverlust, eine entgleiste Wahrnehmung von Gut und Böse. Doch die Serie geht weiter: Sie zeigt den Moment, in dem Mitgefühl kippt – wo man sich fragt, ob man hier gerade das Böse versteht oder das Leid eines kranken Menschen nachempfindet.

Und da liegt der moralische Sprengstoff dieser Produktion: Empathie.

Empathie – Fluch und Gnade zugleich

Empathie, so lehrt uns die Psychologie, ist zweischneidig. Sie kann sensibilisieren, aber auch abstumpfen. Man kann fühlen, ohne zu verstehen – oder verstehen, ohne zu verurteilen. MONSTER bringt uns an diese Grenze.

Ich habe in meinem Berufsleben viele Menschen mit Schizophrenie erlebt – nicht alle gefährlich, kaum einer brutal. Aber viele verloren in ihren eigenen Welten. Und wer das einmal gesehen hat, versteht, dass der Horror oft nicht im Täter beginnt, sondern in der Krankheit.

Genau das zeigt der Film. Man beginnt, Mitgefühl zu empfinden – nicht mit dem Mörder, sondern mit dem Menschen, der in seinem Kopf gefangen ist. Ein Gefühl, das man nicht will, das man fast beschämt verdrängt, weil es sich falsch anfühlt. Aber es ist da.

Das Monster als Spiegel

MONSTER ist keine einfache Serie. Sie verlangt, dass man hinsieht, wo man sich lieber abwenden würde. Sie zwingt einen, über das eigene Urteil nachzudenken – über eigenes Schubladendenken – über Schuld, Krankheit, Verantwortung. Und sie zeigt: Das Böse trägt manchmal ein freundliches Gesicht.

Nach seiner Behandlung, in den letzten Jahren seines Lebens, war Gein kein tobendes Ungeheuer mehr, sondern ein ruhiger, höflicher Patient. Fast liebenswürdig, sagen einige Pfleger. Und da erschrickt man – nicht über ihn, sondern über sich selbst.

Ein letzter Gedanke

Der Film A Beautiful Mind hat einst etwas Ähnliches geschafft: Er ließ uns begreifen, dass Schizophrenie kein Filmmonster ist, sondern ein innerer Krieg. MONSTER geht diesen Weg weiter – nur tiefer, schmutziger, ehrlicher.

Wir alle sollten dankbar sein, dass wir mit einem halbwegs funktionierenden Gehirn auf die Welt gekommen sind. Und doch lohnt es sich, dem Irrsinn zuzusehen – nicht aus Voyeurismus, sondern aus Demut.

Denn vielleicht ist das wahre Grauen nicht das, was Edward Gein tat,
sondern das, was jeder von uns denken könnte, wenn er den Bezug zur Wirklichkeit verliert.


Fazit:
Ein grandioses, verstörendes Stück filmischer Psychopathologie. Kein Spektakel, kein Blutrausch – sondern ein stiller Schrei aus der Dunkelheit des menschlichen Geistes. MONSTER ist nicht nur eine Serie über einen Mörder. Es ist eine Warnung davor, wie dünn die Wand ist, die uns vom Wahnsinn trennt.


Mehr zum Thema

Aktuelles