MUTIG IST, WER AUCH MAL SCHWEIGT

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Mut ist eine Tugend, für die jeder seine eigenen Beispiele parat hat. Für den einen ist es mutig, vom Fünfmeter-Turm zu springen, für den anderen, sich hinter feindlichen Linien aufzuhalten und Waffendepots auszukundschaften. Die meisten verbinden mit Mut eine konkrete Handlung: etwas (Wage-)Mutiges anstoßen, Ungewöhnliches vorantreiben, sich selbst über eigene Grenzen hinaus ausprobieren. Dabei kann es auch mutig sein, sich einer Handlung zu verweigern, zum Beispiel trotz Gruppenzwang nicht bei einer Sachbeschädigung mitzumachen.

Unzweifelhaft ist derjenige mutig, der sich, wie ein Soldat es tun würde, im Nahkampf dem Gegner stellt. Dagegen kann es aber sehr wohl auch mutig sein, eine bestimmte Lage auszuhalten und abzuwarten. Oder anders: erstmal den Kopf einzuziehen, Deckung zu suchen und abzuwarten. Warum ist das so? Ein Beispiel.

Mutig, aber tot

Ein Soldat lauert in seinem Schützengraben und beobachtet über das Schlachtfeld den Gegner im gegenüberliegenden Schützengraben. Warum die beiden Parteien sich bekämpfen, spielt hier keine Rolle. Mutig wäre es in diesem Szenario möglicherweise, bei Nacht durch das Schlachtfeld an den gegnerischen Schützengaben heran zu kriechen und den Gegner direkt dort anzugreifen. Vielleicht wäre das auch ein Himmelfahrtskommando – je nach Stärke und Aufklärungskunst des Gegners. Ein Soldat gegen einen anderen Soldaten – das hätte eine faire Chance. Sollten sich in dem gegnerischen Graben mehrere Gegner aufhalten, wären die Erfolgschancen ungleich kleiner – und das Überleben des Soldaten sehr gefährdet. Sicher ist, dass, sollte der Soldat diese Aktion tagsüber probieren, sein Scheitern sehr wahrscheinlich wäre und seinen Tod bedeuten könnte: der Gegner würde ihn vorher aufklären und erschießen. Daher könnte man festhalten: sein Verhalten wäre zwar mutig, aber nicht zielführend. Sogar lebensmüde.

Fairerweise würde ein Soldat so auch nie handeln. Denn er würde zuvor eine umfassende Lageaufklärung betreiben, die ihm anzeigen würde, wie stark der Gegner vertreten ist, welche Kampfmoral vorherrscht, wie stark er bewaffnet ist, wieviel Nachschub er hat und vieles mehr.

Vermutlich wäre auch jedem Zivilisten in diesem Szenario klar, dass Mut nicht mit Übermut und Leichtsinn zu verwechseln ist und eine bestimmte Aktion immer von einer vorherigen Lageeinschätzung abhängig sein sollte.

Angeschossen in der zivilen Welt

Übertragen wir diese Erkenntnisse auf unsere zivile Welt, handeln wir nicht immer so konsequent. Vielleicht erkennen wir zu selten, dass wir sprichwörtlich in Schützengräben liegen. Auch werden Lageeinschätzungen selten vorgenommen, bevor man sich in Kämpfen verliert. Kämpfe in der zivilen Welt werden zwar nicht in Schützengräben ausgetragen, es werden keine Waffen, Sprengfallen oder Raketen eingesetzt. Aber zivile Kampfmittel gibt es gleichwohl. Auch verdecktes Feuer aus dem Hinterhalt gibt es – um im Bild zu bleiben.

Folgendes Beispiel: Nehmen wir an, Sie sind Bereichsleiter in einem Unternehmen und haben eindeutige, valide Marktforschungsdaten, die belegen, dass die Einführung einer neuer Produktlinie Ihres Unternehmens von den Kunden gewertschätzt werden würde. Sie haben einen Business Case mit aller Sorgfalt erstellt, der selbst im Worst Case Szenario belegt, dass sich die notwendigen Investitionen durch die zu erwartenden Absatzmengen und Margen schnell amortisieren würden. Sie plädieren daher für die Einführung dieser neuen Produktlinie. Aber – Sie stehen allein mit Ihrem Vorschlag, diese Produktlinie aufzulegen. Stattdessen gibt es eine mächtige Gegengruppierung im Haus, angeführt von einem anderen Bereichsleiter und unterstützt von Teilen des Vorstands, die vehement gegen diesen Vorschlag ist. Das finden Sie nicht nachvollziehbar, die Motive für diese Entscheidung liegen für Sie im Dunkeln. Daher begehren Sie öffentlich auf, zum Beispiel, indem Sie im Townhall-Meeting den Bereichsleiter (oder dessen Vorgesetzten) coram publico auffordern, Stellung zu der Absage der Produktlinie zu beziehen.

Stehen Sie damit zu Ihrer Meinung, sogar zu Ihrer aufrichtigen Überzeugung? Ja.

Sind Sie überzeugt davon, dass andere, wenn sie Ihre Fakten kennen, Ihre Meinung bzw. Ihren Vorschlag teilen werden? Ja.

Sind Sie objektiv gesehen im Recht? Ja.

Sind Sie also mutig? Ja.

Aber sollten Sie so handeln? Nicht wirklich.

Abgestempelt

Zum einen sorgen Sie mit Ihrer öffentlichen Nachfrage für einen möglichen Gesichtsverlust des Bereichsleiters (und der hinter ihm stehenden Vorstandsmitglieder), den dieser nicht goutieren wird. Sie outen sich damit als kritischer Geist, als kein bedingungsloser Ja-Sager, und zeigen sich damit – aus Sicht der Gegengruppierung – als unbequemer Zeitgenosse, der mit seiner Nachfrage eine Entscheidung in Frage stellt, die in diesem Fall vom Vorstand abgesegnet wurde. Sie geben sich als Kritiker zu erkennen und treten offen in einen verbalen Kampfring. Das ist mutig, aber kommt unter Umständen einer Selbstverstümmelung gleich. Wie schlimm Ihre Verletzung sein wird, zeigt sich bei der Bewertung der Machtverhältnisse – Ihrer eigenen und der der mächtigen Gegengruppierung.

Dabei ist es unerheblich, ob Sie rein sachlich im Recht sind. Fakten sind schön zu haben, aber sie sind nicht immer kriegsentscheidend (wenn Sie mir den militärischen Ausdruck verzeihen möchten). Mit Ihrer mutigen Aktion haben Sie sich wahrscheinlich Feinde gemacht und werden als Kritiker abgestempelt. Zwar werden Sie nicht, wie der Soldat im Schützengraben, erschossen, aber Sie ziehen Unbill auf sich – und erhalten in der Folge möglicherweise weniger Unterstützung für andere Projekte, weniger Fürsprecher für die eigene Karriereentwicklung oder die Höhe Ihres Bonus. Im schlimmsten Fall werden Sie auf ein Nebengleis abgestellt, die Karriere on hold.

„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!“

Diese alte Redewendung könnte nicht passender beschreiben, was in der oben skizzierten Lage das Bessere gewesen wäre: eine Bewertung der Lage, also Ihrer Chancen auf Erfolg, vorzunehmen – und möglicherweise zu schweigen. Denn Sie verfolgen mit Ihrer Handlung immer auch ein Ziel, in dem Beispiel die Einführung der Produktlinie und damit den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens wie auch Ihrer eigenen Karriere. Die vorrangige Frage sollte daher sein: „Erreiche ich mit meiner Nachfrage mein Ziel?“

Hätte Ihre Lagebewertung ergeben, dass Sie selbst Teil einer ebenso mächtigen Gruppierung im Unternehmen sind, weil Sie den halben Aufsichtsrat und andere Teile des Vorstands hinter sich haben, hätten Sie diese offene, kritisch hinterfragende Position (also diesen Frontalangriff) möglicherweise wagen können. Sie hätten sich damit zwar auch einem verbalen Gefecht gestellt, wären aber durch die Rückendeckung geschützt gewesen – und müssten in der Folge nicht allzu schlimme Konsequenzen für sich fürchten.

Stehen Sie aber mit Ihrer Meinung zur Einführung der Produktlinie allein da, sind Sie der Gegengruppierung im Sinne der Machtverhältnisse unterlegen. Dann wäre es klüger, sich nicht öffentlich als Gegner zu outen, sondern Ihre Kritik für sich zu behalten. Mut hätte hier bedeutet: Lage bewerten und auf eine bessere Gelegenheit warten.

Sie können Ihre Ansichten immer noch äußern, in kleinem Kreis. In großen Gruppen und öffentlichen Meetings würden Sie dagegen eher Stillschweigen bewahren oder nur auf Nachfrage vorsichtige Einwände vorbringen. Sie würden Schritt für Schritt, Person für Person, Überzeugungsarbeit leisten, Fakten auf den Tisch bringen und sich nach mächtigen Verbündeten umschauen. Sie würden herausfinden, welche Motive der Gegengruppierung dafür gesorgt haben, dass die neue Produktlinie abgelehnt wurde. Wenn Sie mächtige Verbündete gefunden haben und den Gegner mit seinen Motiven gut kennen, dann können Sie entscheiden: wieder in die Diskussion einsteigen oder das Thema für immer abhaken. 

Weit hergeholt?

Sie denken, dieses Beispiel ist nicht praxisnah und könnte höchstens in ganz verkalkten, verstaubten Unternehmen vorkommen, die rein hierarchisch geführt werden und eine offene Streitkultur unterdrücken? In der eine „Cover-your-ass“-Kultur vorherrscht? Sie denken, dass es in modernen Unternehmenskulturen zum modernen Zeitgeist gehört, kritisch nachzufragen?

Das mag in einigen Unternehmen mittlerweile möglich sein. Es gibt aber nach wie vor viele, bei denen – zumindest bei äußerst heiklen, politischen Entscheidungen – eine solche öffentlich geführte Debatte wenig geschätzt werden würde.

Überzeugt Sie nicht? Dann schauen Sie mal in die Zeitung. In der öffentlichen Debatte ist es gang und gäbe geworden, Mindermeinungen zu diffamieren, pauschal abzuwerten und zu verunglimpfen. Schauen Sie nur mal die Diskussion rund um Corona an. Die eine mächtige Gruppierung dominiert die Schlagzeilen – die Ratschläge der Virologen werden, fast ungeprüft, für bare Münze genommen. Wer es als Einzelner wagt, sich mit kritischer Gegenmeinung zu äußern, wird heftig beschimpft, verunglimpft. Das geht hin bis zur Reputationsschädigung fachlich hervorragender Experten. Dabei geht es gar nicht mehr um die eigentlichen Fakten (und nur die bedingungslose Auswertung wissenschaftlich erhobener Daten könnte eine valide Einschätzung bringen). Aber Sie wissen schon: Fakten spielen kaum eine Rolle. Nicht, wenn es um politische Entscheidungen geht.

Unabhängig davon, ob militärisches Einsatzgebiet, Unternehmenswelt oder öffentlicher Diskurs: Mutig zu sein, kann bedeuten, zu handeln oder sich zu äußern. Das wussten wir vorher. Es kann aber in bestimmten Lagen genauso mutig sein, nichts zu tun, Stillschweigen zu bewahren, die Lage zu sondieren, Verbündete zu suchen.

Natürlich können Sie sich auch in der glücklichen Lage befinden, dass es Ihnen egal  ist, was andere zu Ihrer Meinung, Stellungnahme oder zu Ihren Vorschlägen sagen, weil Sie beruflich, finanziell und moralisch unabhängig sind. Herzlichen Glückwunsch! Aber da dies für nur wenige Menschen zutreffen dürfte – begehen Sie keinen Selbstmord! Zumindest nicht ohne vorherige Lageeinschätzung.

Fazit: Der Klügere gibt nicht nach – er hält manchmal die Klappe

Machen Sie vor jeder Handlung – das kann eine Tat sein oder eine Äußerung – eine valide Lageeinschätzung. Werden Sie sich über Ihre Motive klar: Was wollen Sie mit Ihrer Handlung bezwecken? Anderen zeigen, dass Sie zu Ihrer Meinung stehen? Zeigen, dass Sie eine andere Meinung als die der herrschenden Gruppe haben? Dass Sie auf Basis der Fakten Recht haben? Wollen Sie andere von Ihrer Meinung überzeugen?

Bewerten Sie Ihre eigene Macht im Verhältnis zur Gegenfraktion: Wer hat welche Verbündeten hinter sich? Wer hat welche Geschütze (Waffentypen, Munitionsvorräte) auf Lager? Wer ist in einer besseren Position? Ist Ihr Ziel mit der geplanten Handlung, Äußerung, Stellungnahme erreichbar – oder riskieren Sie eigene Blessuren?

Kommen Sie zu einer validen Einschätzung, ob sich die geplante Handlung für Sie lohnt. Und bedenken Sie: sich nicht öffentlich zu äußern, bedeutet nicht, dass Sie sich selbst verleugnen. Es bedeutet nur, dass Sie erstmal abwarten, sich bedeckt halten und die Lage sondieren – um zu einem besseren Zeitpunkt Ihre Chance zu nutzen.

Das ist kein Plädoyer dafür, Ja und Amen zu allem zu sagen. Es geht nicht darum, Duckmäusertum gutzuheißen. Es ist vielmehr der Aufruf dazu, sich schlau zu verhalten. Seine Meinung im kleinen Kreis zu vertreten, Verbündete zu finden, unter dem Radar weiter zu wirken, sich zusammenzuschließen mit Gleichgesinnten – und dann, mit mehr Macht im Rücken, zu handeln oder die erneute Diskussion zu wagen.

Mutig zu sein heißt nicht immer kämpfen, handeln, kommentieren. Es kann viel gewinnbringender sein, still zu halten, abzuwarten und eine bessere Chance zu nutzen.

#Mut #Kampf #Abwarten #KeinDuckmäusertum #Klughandeln #Lageeinschätzung


Wiebke Köhler

CEO impactWunder Strategieberatung

Oktober 2020

Buchtipp:

„Schach der Dame! Was Frau (und Mann) über Machtspiele im Management wissen sollte“

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