Immer diese Rechthaber

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Verloren in der Werte-Wildnis

 

Frau Köhler, sind Sie eher Duckmäuser oder Rebellin?

Ah, Sie spielen auf ein Kapitel meines neuen Buches an. Wer mich kennt, weiß: Ich tendiere gelegentlich zur Rebellin.

Ist so ein Rebellen-Leben nicht anstrengend?

Wenn man ständig rebelliert, sicher. Daher lasse ich in Beruf und Privatleben generell das bessere Argument gelten – ganz gleich, wer es vorbringt. Doch wenn etwas im Argen liegt, werde ich Rebellin im Sinne von: Ich kaue ungern nach, was andere mir vorsagen. Ich denke lieber selbst nach, bilde mir eine eigene Meinung – und halte mit dieser auch nicht hinterm Berg. In der aktuellen Diskussionskultur gilt das bereits als Rebellion.

Wären wir nicht alle lieber Rebellen? Niemand ist doch gerne Duckmäuser!

Da täuschen Sie sich. Natürlich nennt sich kein Duckmäuser selber so. Doch wenn Missstände akut werden oder man für sich Nachteile von einer offen geäußerten Meinung erwartet, halten manche Menschen lieber erst einmal die Klappe. Das ist an sich nichts Schlechtes.

Wieso soll Kuschen gut sein?

Weil das per se kein Kuschen ist, sondern schlicht ein anderer Wert, den ein Mensch lebt: Zurückhaltung. Niemand würde behaupten, dass Zurückhaltung, Besonnenheit oder Vorsicht schlechte Werte wären – es sind einfach andere Werte als die eines Rebellen. Das ist die eigentliche Botschaft meines neuen Buches.

Nämlich?

Dass unser Verhalten, unser Denken und unser Erfolg in Leben und Beruf zwar auch von Intelligenz, Kompetenz und Erfahrung determiniert werden, aber noch viel stärker von unseren Werten, die unser Verhalten bestimmen. Leider sind viele Menschen werte-blind.

Was heißt das?

Sie werden zwar von ihren Werten geleitet oder eher getrieben, kennen diese aber nicht, weil sie diese nicht genügend reflektieren. Das hat unter anderem zu der Rechthaber-Epidemie geführt, die unsere Gesellschaft aktuell zerreißt.

Können Sie das am Beispiel erläutern?

Nehmen wir Toleranz – ein nobler Wert. Wer tolerant ist, lässt andere so, wie sie sind und zwingt sie nicht, sich zu verbiegen. Das hat seine Grenze in meinen Augen nur bei unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Nun fordern manche gesellschaftliche Gruppen mehr Toleranz gegenüber der eigenen Gruppe. Irritierend daran ist, dass sie selbst aber keine große Toleranz anderen gegenüber an den Tag legen. Toleranz sollte per definitionem gegenseitig sein. Sie gilt für alle: Für jene, die sie fordern, wie für jene, von denen sie gefordert wird. Wenn nicht, ist das Werte-Missbrauch. Wir setzen Werte nicht mehr ein, um die Welt besser zu machen, sondern hauen anderen unsere Werte wie einen nassen Lappen um die Ohren. Damit ist die öffentliche Diskussion zur Rechthaber-Orgie verkommen.

Bei welchem Thema zum Beispiel?

Bei so gut wie jedem öffentlich und medial diskutierten Thema. Nehmen wir die Cancel Culture. Manche fordern, dass wir beispielsweise „Schwarzfahrer“ aus dem Sprachgebrauch streichen müssen, weil der Begriff die sprachliche Toleranz gegenüber schwarzen Menschen vermissen lasse. Mal abgesehen davon, dass dieser Ausdruck etymologisch nichts mit der Farbe zu tun hat, sondern sich vom jiddischen Wort „shvarts“ für Armut ableitet und Menschen beschreibt, die sich ein Ticket nicht leisten konnten: Es ist erst einmal ein Diskussionsbeitrag, dem man begegnen sollte. Nur findet diese Diskussion nicht statt, weil einige, die eine Veränderung am vehementesten fordern, oft auch jene sind, die keinerlei Toleranz und Offenheit für eine Debatte darüber zeigen. Ich frage mich: Ist jenen, die so überaus nachdrücklich mehr Toleranz fordern, eigentlich klar, dass sie nicht Toleranz üben, sondern Rechthaben um jeden Preis?

Warum machen Menschen das?

Weil sie den einen Wert meinen, aber den anderen leben. Sie meinen Toleranz, wollen aber Recht haben. Die Ikea-Frage lautet: Diskutierst du noch – oder bist du schon beim Rechthaben? Dann ist jede Diskussion sinnlos, weil niemand gerne mit einem Oberlehrer und Besserwisser diskutiert. Daher das Täuschungsmanöver mit der Toleranz: Wenn jemand von vornherein sagt, dass es ihm nicht um Toleranz, sondern ums Rechthaben geht, redet doch keiner mehr mit ihm. 

Das klingt gleichzeitig pragmatisch und philosophisch. Interessieren sich Menschen für so ein komplexes Thema?

Brennend – und zwar beruflich wie privat. Deshalb heißt das Buch auch „Manager und Mensch“.

Niemand sprach vor fünf Jahren über Werte. Woher das plötzliche Interesse?

Weil die Welt aktuell vor die Hunde geht: Klima, Pandemie, Ressourcen, Wirtschaftskraft, freiheitliche Rechte. Und weil inzwischen jeder ahnt, dass das weniger mit unserer Intelligenz zu tun hat – davon haben wir mehr als genug. Sondern mit unseren Werten. Werte und daraus abgeleitete Überzeugungen können Welten zerstören.

Wieder am Beispiel?

Zum Beispiel wie wir miteinander reden. Warum und wozu? Welcher Wert leitet uns, wenn wir den Mund aufmachen? Wollen wir damit die Welt besser machen? Dem anderen helfen? Oder wollen wir besserwissen? Das meiste, was wir heute in den Medien, am Arbeitsplatz und auch in manchen Familien erleben, ist eine endlose Rechthaber-Arie. Rechthaben ist der vorherrschende Wert. Es fühlt sich wie im Paradies an, wenn ich in Unternehmen oder Teams komme, wo der Wert lautet: Wir nehmen kein Blatt vor den Mund, wir diskutieren die verschiedenen Positionen und Ansichten kontrovers aus. Und wenn wir uns nicht einig werden können, dann gilt: We agree to disagree.

Sie haben Führungskräfte gefragt, welche drei Werte in einer Krise wie der Pandemie die wichtigsten sind. Was kam heraus?

Drei standen zur Auswahl: Freiheit, Integrität und Stabilität. Man hätte vermuten können, dass gerade in einer Krise Stabilität besonders wichtig ist. Doch in der Umfrage entwickelte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Freiheit und Integrität.

Wie erklären Sie sich, dass Menschen in einer Krise ausgerechnet Freiheit so hoch einschätzen?

Weil die aktuelle Pandemie viele Freiheiten einschränkte: Reise-, Demonstrations-, ja sogar oft die Meinungsfreiheit und fast hin bis zur Freiheit, über den eigenen Körper bestimmen zu dürfen. Das ging vielen zu weit. So weit, dass sie demonstrierten oder sich verweigerten. Das wiederum gab mächtig Ärger und Streit. Keiner stellte die eigentliche Frage.

Die da wäre?

Es ist die Werte-Frage: Steht der Wert der Freiheit in einer freiheitlichen Demokratie immer über allem? Oder sind manchmal, wie in Krisen, andere Werte, wie Gesundheit, wichtiger? Gibt es einen Trade-off zwischen Freiheit und Gesundheit? Und wenn ja, wo liegt der Point-of-no-Return dieses Abtauschs? Darf ich zum Beispiel Menschen mit einem nicht vollumfänglich ausgetesteten Impfstoff zur Impfung zwingen, weil Gesundheit der vorrangige Wert ist? Ist das dann werthaltig oder schon Freiheitsberaubung? Und es ist ja nicht nur so, dass Politik und Medien diese zentralen Frage vernachlässigen. Das machen wir im Alltag ebenso falsch.

Weil wir diese Frage nicht stellen?

Das auch. Aber vor allem: Weil wir sie im Hinterkopf schon beantwortet haben und unsere Antwort nun anderen aufzwingen.

Was meinen Sie damit?

Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, dass in vielen Gesprächen auch zwischen Wildfremden eine der ersten Fragen lautet: Und? Sind Sie schon geimpft? Ich kenne Menschen, die diese Frage gern bejahen oder auch offen verneinen. Ich kenne aber auch Menschen, die sagen: Was geht das andere an? Ich frage meinen Nachbarn ja auch nicht, ob er Nagelpilz hat. Die Frage nach dem Impfstatus impliziert faktisch, dass es gar keine andere denkbare Haltung zu dem Thema geben könnte und stellt somit sozialen Druck für das Durchsetzen der eigenen Meinung dar. Abgesehen davon: Medizinische Daten meines Gegenübers haben mich nichts anzugehen!

Ist das nicht bloß eine unglaubliche, aber verzeihliche Gedankenlosigkeit?

Das natürlich auch – wenn wir angesichts der gelegentlich betretenen Miene unseres Gegenübers wenigstens darüber nachdenken oder diskutieren würden. Doch das tun wir nicht. Vor allem reflektieren wir nicht. Deshalb erkennen wir die Werte nicht, die uns treiben. Im Extremfall spaltet das die Gesellschaft, vergiftet das Klima und richtet massiv Schaden an.

In welchem Extremfall?

Zum Beispiel, wenn Menschen eher in Kauf nehmen, sich möglicherweise anzustecken als sich impfen zu lassen. Darüber empören sich andere wiederum, anstatt der Sache auf den Grund zu gehen.

Was ist der Grund dafür?

Einigen ist die persönliche Freiheit offensichtlich mehr wert als die eigene Gesundheit – wie zum Beispiel jedem Extremsportler. Warum werden die einen dann glorifiziert und die anderen stigmatisiert? Keiner denkt darüber nach. Im Endeffekt entstehen daraus heftige Auseinandersetzungen.

Weil keiner darüber nachdenkt?

Weil zu wenige begreifen: Der andere ist nicht mein Feind! Er hat bloß andere Werte als ich. Okay, oft total andere Werte. Aber vielleicht können wir ja in eine Werte-Diskussion einsteigen? Stattdessen fliegen die Beleidigungen und nach angemessener Eskalation dann im Ernstfall ernsthafte Verbalattacken. So werden Kriege gemacht – und Ehe-Scheidungen. Wir verdammen andere, weil wir sie für schlechte Menschen halten, anstatt sie zu fragen, warum sie die Werte leben, die sie leben. Ich dachte, wir sind inzwischen klüger.

Wären wir klüger, würden wir auch nicht ständig auf Fake News hereinfallen. Lässt sich diese Unmode auch mit Werten erklären oder gar heilen?

Welches Problem der Menschheit hat nichts mit Werten zu tun? Können Sie mir eines nennen? Es gibt keines. Deshalb haben mich doch so viele Menschen aus Management und Privatleben lange gedrängt, etwas über Werte zu sagen und zu schreiben. Werte regieren unser Leben. Sie diktieren es, solange wir sie nicht reflektieren. Und wenn sie reflektiert sind, lenken sie unsere Handlungen. Hinter Fake News steht der fehlende Wert der Faktentreue; früher hätte man das „Wahrheitsliebe“ genannt. Heute hat jeder eine Meinung, oft basierend auf Nichtwissen oder Halbwissen – zur Hölle mit den Fakten! 

Welche Themen behandeln Sie noch in Ihrem Buch?

Etliche, zum Beispiel: Wann es mutiger ist, die Klappe zu halten. Warum es nicht gut ist, immer der Beste sein zu wollen. Was der Unterschied ist zwischen Macht und Autorität.

Was ist der Unterschied?

Den erkennen Sie mit einer einfachen Frage: Wollen Sie lieber einen Chef mit Macht oder mit wahrer Autorität? Weitere Themen sind: Wo Konformitätsdruck aufhört und Kadavergehorsam anfängt und man sich verbiegt, bloß weil der toxische Chef das fordert. Was Disziplin mit Freiheit zu tun hat.

Das ist doch eher ein Gegensatz: Wer diszipliniert sein muss, ist unfrei!

Das ist richtig: Heute, aber nicht morgen. Denn wenn Sie heute diszipliniert arbeiten und dabei hohe Fachkompetenz und Routine erwerben, schaffen Sie sich damit morgen viel mehr Freiheitsgrade, als wenn Sie heute in den Tag hineinleben. Disziplin ist eine Investition in die eigene Freiheit. In diesem Sinne wünsche ich uns allen mehr davon!

Frau Köhler, vielen Dank für das Gespräch!


Das Buch zum Interview

Wiebke Köhler: Manager und Mensch. Werte und Tugenden auf dem Prüfstand, Books on Demand, Norderstedt, 2021. 24,90 EUR.

ISBN 9783754322956

 

Autorin

Wiebke Köhler ist seit über zwanzig Jahren Top Management Strategieberaterin; auch ist sie Gründerin, Key Note Speakerin und mehrfache Buchautorin. Sie arbeitete während ihrer beruflichen Laufbahn in den Top Management Beratungen bei Roland Berger und McKinsey & Co. Als Partnerin im Executive Search begleitete sie internationale, globale Konzerne bei der Besetzung von Vorstandspositionen und bekleidete zuletzt die Position als Personalvorstand bei der AXA Konzern AG in Deutschland. Sie ist CEO der Top Management Beratung impactWunder und unterstützt Konzerne in strategischen Fragen des Marketings und im HR, vor allem rund um Kultur, Werte- und Machtwandel und bei der Führungskräfteentwicklung.


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