„Mehr als 2.000 Rechtsextremisten im Visier“

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Extremistisches Personenpotential sowie Gewalt- und Straftaten angestiegen

Wiesbaden. Der Hessische Innenminister Peter Beuth hat heute gemeinsam mit dem Präsidenten des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) Hessen, Robert Schäfer, den hessischen Verfassungsschutzbericht 2019 und die maßgeblichen extremistischen Entwicklungen aus dem Berichtsjahr vorgestellt. Demnach ist das extremistische Personenpotenzial in Hessen 2019 im Vergleich zum Vorjahr um etwa 600 auf rund 14.000 Personen angestiegen. Der größte Zuwachs ist im Bereich des rechtsextremistischen Personenpotentials mit einer Steigerung von 1.475 (2018) auf 2.200 (2019) zu verzeichnen. Auch bundesweit ist die rechtsextremistische Szene zuletzt von 24.100 (2018) auf 32.080 (2019) Personen angewachsen.

„Die Bedrohung durch den Rechtsextremismus ist in Deutschland und so auch in Hessen dramatisch gestiegen. Insbesondere der schreckliche Mord an Dr. Walter Lübcke, die niederträchtige Tat in Halle und der fürchterliche Anschlag von Hanau haben die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland schwer erschüttert und unser Bundesland besonders getroffen. Mit unermüdlichem Einsatz haben unsere Sicherheitsbehörden im vergangenen Jahr daran gearbeitet, Entwicklungen und Bestrebungen im Bereich des Extremismus weiter aufzuhellen. Dabei wurde insbesondere der Druck auf die rechtsextremistische Szene weiter erhöht. Wir werden auch künftig alle Hebel in Bewegung setzen, um die Feinde unseres über Jahrzehnte errungenen, friedliebenden und toleranten Gemeinwesens mit allen Mitteln des Rechtsstaats zu bekämpfen. Wir werden deshalb weiterhin mit konsequentem Handeln und umfangreichen operativen Maßnahmen dem rechten Hass entgegentreten“, so Innenminister Peter Beuth

Das rechtsextremistische Personenpotenzial in Hessen ist im vergangenen Jahr um 725 auf 2.200 gestiegen. Grund dafür war insbesondere die im Februar 2019 aufgenommene Beobachtung der AfD-Teilorganisationen „Flügel“ und „Junge Alternative“ (JA). Die Anzahl von als gewaltorientiert eingestuften Rechtsextremisten nahm im Berichtsjahr 2019 ebenfalls zu. Sie stieg um 160 auf 840 Personen.

Erläuterung zur Tabelle:

Personenpotenzial: Zum Gesamtpersonenpotential (2019: rund 14.000 / 2018: rund 13.400) zählen auch noch die sogenannten Reichsbürger und Selbstverwalter (Personenpotenzial 2018 und 2019: jeweils 1.000), die eine Schnittmenge mit dem rechtsextremistischen Personenpotenzial aufweisen.

Straf- und Gewalttaten: Extremistisch motivierte Straftaten bilden eine Teilmenge der Straftaten der Kategorie „Politisch motivierte Kriminalität“. Bei extremistisch motivierten Straftaten handelt es sich um diejenigen Straftaten, bei denen es Anhaltspunkte dafür gibt, dass sie darauf abzielen, bestimmte Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen, die für die freiheitliche demokratische Grundordnung prägend sind.

 

Extremistische Straf- und Gewalttaten verzeichneten von 2018 auf 2019 einen deutlichen Anstieg auf insgesamt 1.060 Delikte. Der größte Anteil der extremistischen Straftaten ist dem Rechtsextremismus zu zurechnen. Von den insgesamt 886 erfassten rechtsextremistischen Straftaten sind 803 Delikte sogenannte Propagandastraftaten. 2019 wurden in Hessen 31 rechtsextremistische Gewalttaten erfasst; darunter das Tötungsdelikt am Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke sowie das versuchte rassistisch motivierte Tötungsdelikt in Wächtersbach. Bundesweit wurden 21.290 (2018: 19.409) Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund erfasst, darunter waren 925 (2018: 1.088) Gewalttaten.

 

Polizei und Verfassungsschutz haben rechtsextremistische Szene weiter aufgehellt

Hessen hat mit der im Juli 2019 geschaffenen polizeilichen Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Hessen R den Verfolgungsdruck auf die rechte Szene spürbar erhöht. Seit Einsetzung der Ermittlungseinheit im Juli 2019 wurden bis heute über 220 Einsatzmaßnahmen und 110 Durchsuchungen in Hessen durchgeführt sowie 114 Haftbefehle vollstreckt. Die BAO Hessen R besteht aus hessenweit 140 Ermittlern. Auch die temporär aus über 100 Ermittlern bestehende Sonderkommission Liemecke, die nach dem Mord an Dr. Walter Lübcke eingesetzt wurde, hatte in enger Zusammenarbeit mit dem Landesamt für Verfassungsschutz im vergangenen Jahr zur Aufhellung rechtsextremistischer Strukturen in Hessen beigetragen. Im LfV wurde darüber hinaus eine Sonderauswertungsgruppe gebildet, die Reaktionen der rechtsextremistischen Szene auf den Mordfall in den Blick nahm. Einer wiederkehrenden Prüfung wurden im Berichtsjahr 2019 sogenannte „abgekühlte Rechtsextremisten“ zugeführt, die in der Vergangenheit zwar einschlägig rechtsextremistisch in Erscheinung getreten waren, in der Gegenwart aber eine unauffällige Vita führen. Dazu wurde die Sondereinheit „BIAREX – Bearbeitung integrierter bzw. abgekühlter Rechtsextremisten“ im LfV gebildet und dieses Personenpotential speziell unter die Lupe genommen. 41 Personen mit zuletzt unauffälliger Vita rückten durch die BIAREX-Betrachtung wieder in eine fokussierte Bearbeitung.

 

Besonderer operativer Fokus auf Rechtsextremisten

Ergänzt wird BIAREX fortan durch das Modul FoBaRex („Fokussierte operative Bearbeitung herausragender Akteure im Rechtsextremismus“). Mit der neuen Einheit intensiviert das LfV Hessen den personenbezogenen Ansatz bei der Bearbeitung des Rechtsextremismus weiter.

 

„FoBaRex nimmt besonders relevante Rechtsextremisten in Hessen gesondert und intensiv in den Fokus. Dabei geht es um die Frage, ob diese Rechtsextremisten jeweils ein besonderes Radikalisierungspotenzial aufweisen, Vernetzungsprotagonisten sind und damit in besonderem Maße zur Vernetzung von Szenemitgliedern beitragen, oder ihren Schwerpunkt im Bereich Aktivitäten, etwa als Initiatoren von Veranstaltungen, haben. Aus diesem Lagebild und seiner Fortschreibung kann das LfV Hessen wertvolle analytische Schlüsse ziehen, Prognosen erstellen und das nachrichtendienstliche Vorgehen noch zielorientierter steuern“, sagte LfV-Präsident Robert Schäfer.

 

Die Aufhellung der rechtsextremistischen Szene war 2019 zudem auch das Ziel zahlreicher Observationsmaßnahmen. Allein 44 Prozent aller nachrichtendienstlichen Observationen entfielen 2019 auf den Bereich des Rechtsextremismus.

 

Neue Rechte drängt in den öffentlichen Diskurs

LfV-Präsident Robert Schäfer warnte vor der „Neuen Rechten“, die als Strömung innerhalb des Rechtsextremismus an Bedeutung gewonnen hat. Die „Neue Rechte“ wählt Themen, die gesellschaftlich relevant sind und breit diskutiert werden: etwa Migration, Asyl, Islam und Kriminalität. „Insbesondere die Ideologie und Sprache, die von sogenannten ‚Neuen Rechten‘ ausgeht, kann zur Inspiration für gewaltorientierte Rechtsextremisten werden und den Impuls für Straftaten geben. Ich sehe zudem die Gefahr, dass die ‚Neue Rechte‘ mit ihrem subtil geschürten Hass noch tiefer in die Gesellschaft eindringt“, sagte Robert Schäfer. Außer der „Identitären Bewegung“ stehen auch die AfD-Teilorganisationen „Flügel“ und „Junge Alternative“ (JA) der „Neuen Rechten“ ideologisch nahe. Im Februar 2019 wurden „Flügel“ und „JA“ Beobachtungsobjekte des Verfassungsschutzes.

 

Corona: Extremisten versuchen, Pandemie zu instrumentalisieren

Insbesondere Rechtsextremisten und Reichsbürger versuchten in den vergangenen Monaten Deutschlandweit und auch in Hessen, die aufgrund der Corona-Pandemie ergriffenen Maßnahmen für Agitationszwecke zu instrumentalisieren. Dabei versuchten einige Rechtsextremisten sich als „Kümmerer“ und „Helfer in der Krise“ zu inszenieren. Andere sind als Initiatoren von Kundgebungen mit Bezug zur Corona-Pandemie in Erscheinung getreten. Das Ziel der Extremisten war dabei offenbar, die Proteste gegen die behördlichen Beschränkungen zu nutzen, um die Anschlussfähigkeit von rechtsextremistischen Positionen an nicht-extremistische Teile der Bevölkerung zu erhöhen.

 

„Unmut über Einschränkungen im Alltag dürfen nicht zum Abgleiten in extremistische Szenen führen. Wir weisen deshalb deutlich darauf hin, dass auch Extremisten im Windschatten der Corona-Protestbewegungen gepaart mit kruden Verschwörungstheorien auch ihre verfassungsfeindlichen Ideologien verbreiten. Nicht nur Rechtsextremisten, Reichsbürger und Selbstverwalter nutzen diese, auch Linksextremisten, Impfgegner, Mobilfunkgegner und Esoteriker finden sich rund um die Corona-Proteste. Das Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet weiter, inwiefern Extremisten aus diesen Protesten Gewinn schlagen wollen und wird in diesem Kontext auch weiterhin auf spezifische Vereinnahmungen durch Extremisten hinweisen“, so Innenminister Peter Beuth.

 

Islamismus: Gefahr trotz IS-Niederlagen nicht gebannt

Nach wie vor stellt der Islamismus eine große Gefahr für die freiheitliche Demokratie dar. In den sozialen Medien verbreitet der IS weiterhin jihadistische Propaganda und Anleitungen zum Begehen von Anschlägen. Der IS verfügt auch in Hessen weiterhin über Sympathisanten und Anhänger.

 

„Die militärische Niederlage des IS in Syrien und im Irak und der Rückgang islamistischer Anschläge in Europa hat möglicherweise den Eindruck einer gewissen Entspannung entstehen lassen. Dabei haben wir es mit einer trügerischen Ruhe zu tun. Auch wenn den Sicherheitsbehörden derzeit keine konkreten Hinweise auf in Hessen geplante islamistische Anschläge vorliegen, besteht weiterhin die Gefahr, dass sich Einzelakteure von der IS-Propaganda zu Attentaten angespornt fühlen könnten. Polizei und Verfassungsschutz bleiben daher auch im Hinblick auf drohende Gefahren durch Islamisten wachsam. Im HETAZ, dem Hessischen Extremismus- und Terrorismus-Abwehrzentrum, tauschen sich Verfassungsschutz und Polizei gemeinsam mit der Justiz eng aus, um den Gefahren, die von Rechtsextremisten wie auch von Islamisten ausgehen, gemeinsam begegnen zu können“, sagte Innenminister Peter Beuth.

 

Das HETAZ ist eine Kommunikations-, Informations- und Kooperationsplattform unter ständiger Beteiligung des LfV Hessen, des Hessischen Landeskriminalamts und zweier Staatsanwaltschaften. Abhängig von konkreten Gefährdungs- und Bedrohungssachverhalten werden Vertreter weiterer Behörden wie zum Beispiel Polizeipräsidien oder Waffenbehörden hinzugezogen. Neben dem Rechtsextremismus lag 2019 im HETAZ auch ein Augenmerk auf dem Umgang mit islamistischen Rückkehrern aus den Kriegs- und Krisengebieten in Syrien und dem Iran. Zuletzt lag dabei vor allem ein Fokus auf Frauen, Kindern und Jugendlichen. Bei der Zerschlagung des sogenannten „IS-Kalifats“ gerieten viele aus Deutschland ausgereiste Frauen und Kinder in Gefangenschaft der Anti-IS-Allianz. Im Laufe des Jahres 2019 kehrten fünf Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit – unter Beteiligung deutscher Sicherheitsbehörden – in Begleitung von insgesamt sieben Kindern nach Hessen zurück. Aus Sicht der Sicherheitsbehörden besteht dabei die Gefahr, dass aus den Krisengebieten nach Deutschland gereiste Personen auch hierzulande vom IS beeinflusst oder gesteuert werden. Zugleich prüfen die Sicherheitsbehörden, ob die Rückkehrer den IS von Deutschland aus weiter unterstützen.

 

Linksextremismus: Sachschäden in Millionenhöhe verursacht

Bundesweit waren im vergangenen Jahr von Linksextremisten zwei versuchte Tötungsdelikte und ein Angriff auf eine Immobilienmaklerin festzustellen. In Hessen erfolgten keine Attacken, bei denen lebensgefährliche Verletzungen oder gar der Tod von Menschen in Kauf genommen wurden. Die Zahl der linksextremistischen Straftaten stieg von 35 auf 60 an, die Zahl der linksextremistischen Gewalttaten sank von 13 auf 5. Den größten Anteil an den linksextremistischen Straftaten machten im Jahr 2019 Sachbeschädigungen aus. Ein besonders gravierender Fall war der Brandanschlag auf ein Autohaus in Kronberg im Taunus (Hochtaunuskreis) Ende August, der in einer Reihe von Straftaten anlässlich der IAA stand. Bei dem Brandanschlag auf dem Gelände eines Autohändlers wurden mehr als 40 hochwertige Fahrzeuge beschädigt, so dass ein Schaden in Millionenhöhe entstand.

 

„Der Verfassungsschutz muss in Erfüllung seines Aufklärungsauftrags herausarbeiten, wie Linksextremisten versuchen, ihre ideologischen Zielsetzungen mit einem Engagement für gesellschaftlich weitgehend akzeptierte Anliegen wie Klimaschutz oder Antifaschismus zu verschleiern. Das LfV differenziert hierbei sehr bedacht zwischen bürgerlichen Protestformen und extremistischer Einflussnahme. Unser besonderer Fokus liegt im Bereich des Linksextremismus darauf, in welchem Maße Entwicklungen der gewaltorientierten bundesweiten Autonomen Szene in Hessen Niederschlag finden“, so Robert Schäfer.

 

Im Bereich des Linksextremismus sprach der Verfassungsschutzpräsident auch die aktuelle Situation im „Dannenröder Wald“ (Vogelsbergkreis) an, den Umweltschützer besetzt haben, um gegen den geplanten und genehmigten Ausbau der A49 im Bereich Homberg/Ohm und die dafür notwendige Waldrodung zu protestieren.

 

„Die Proteste rund um den Bau der A49 werden bislang in weiten Teilen durch nicht-extremistische Umweltschützer getragen. Ein Teil der Besetzer des Dannenröder Waldes ist jedoch dem linksextremistischen Spektrum zu zurechnen. Von diesen Gruppen geht eine zunehmende radikalere Auseinandersetzung mit dem Thema einher: Gespannte Drahtseile auf Kopfhöhe im Wald, Brandanschläge auf mehrere Bagger sowie die mehr als 200 mit einem roten X angesprühten und damit zum ‚Abfackeln freigegebenen‘ Autos in Gießen verdeutlichen, dass jederzeit mit Aktionen gerechnet werden muss, bei denen Sachschäden und die Verletzung von Personen zumindest in Kauf genommen werden“, sagte Robert Schäfer.

 

Neue Abteilung im LfV: Prävention und wissenschaftliche Analyse gebündelt

Nachdem die Prävention im Hessischen Verfassungsschutzgesetz 2018 explizit als gesetzlicher Auftrag verankert wurde, hat das LfV seine Präventionsarbeit weiter ausgebaut und die Präventionskräfte zum 1. September 2020 in einer neuen Abteilung gebündelt. In dieser Abteilung werden unter anderem das Kompetenzzentrum Rechtsextremismus (KOREX) und die Phänomenbereichsübergreifende wissenschaftliche Analysestelle Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit (PAAF) zusammengefasst. Die Zahl der Präventionstermine des LfV ist seit dem Jahr 2010 immer weiter angestiegen und lag im Jahr 2019 auf dem bisherigen Rekordhoch von 335 Veranstaltungen. „Wir sind jeden Tag unterwegs, um über Extremismus zu informieren. Nur Menschen, die Extremismus erkennen und verfassungsfeindliche Agitation durchschauen, sind davor gefeit, sich von Extremisten ködern zu lassen und in eine Radikalisierungsfalle zu tappen. Mit der Schaffung einer eigenen Präventionsabteilung trägt das LfV dem zunehmenden Bedarf an Aufklärung und Beratung insbesondere über extremistische Bestrebungen Rechnung“, erläuterte LfV-Präsident Robert Schäfer.

 

Der Verfassungsschutzbericht 2019 ist auch als Download verfügbar.


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