Nahles will Parteichefin werden – “Ich glaube, ich kann’s”

Estimated read time 6 min read
[metaslider id=10234]

 

19.04.2018

Holger Hansen, Oliver Denzer

Berlin (Reuters) – Sie komme aus einer “eher konservativen Ecke”, sagt Andrea Nahles.

“Das ist noch milde ausgedrückt.” Die einstige Juso-Rebellin meint ihr Dorf Weiler in der Eifel, in dem sie als junge Frau den SPD-Ortsverein ins Leben rief. “Das war dann die maximale Provokation und führte zu großem Gesprächsstoff hier im Dorf”, erinnert sich die 47-Jährige im Gespräch mit Reuters-TV. “Und insoweit gehörte erstmal das Überwinden von Widerständen zu meiner politischen Vita von Anfang an dazu.” Die zielstrebige Katholikin schwingt sich auf, am Sonntag erste Parteichefin in der über 150-jährigen Geschichte der Sozialdemokraten zu werden.

Widerstände überwinden oder gar Gegner niederringen musste Nahles für diesen nächsten großen Schritt nicht mehr: Als Martin Schulz – tief verletzt durch sein Debakel als Kanzlerkandidat und führungsschwach im Ringen der SPD mit sich und der Neubildung einer ungeliebten großen Koalition – als Parteichef nicht mehr tragbar erschien, stand niemand bereit, der Nahles den Anspruch hätte streitig machen können. Die zum linken Flügel gerechnete, aber pragmatisch orientierte Rheinland-Pfälzerin polarisiert zwar unverändert auch in den eigenen Reihen. Doch von 2009 bis 2013 als Generalsekretärin und zuletzt als Bundesarbeitsministerin verstand sie es, sich Respekt und Anerkennung selbst beim politischen Gegner zu erwerben.

NAHLES: HEIMAT UND TEAMPLAY

Ihr Rückszugsort ist das Dorf, wo sie mit ihrer im vorigen Jahr eingeschulten Tochter lebt und an Weiberfastnacht stets Schnaps ausschenkt. “So einen Ort zu haben, wo man akzeptiert wird, ohne dass viele Fragen gestellt werden – das ist für mich Heimat. Das ist für mich das Dorf hier in der Eifel”, sagt Nahles. Als erste Frau übernahm sie im September den Vorsitz der auf 153 Abgeordnete geschrumpften Bundestagsfraktion. Sie wähnte sich damals noch als Oppositionsführerin. Weithin wurde mit einem Regierungsbündnis aus Union, FDP und Grünen gerechnet. Es kam anders, weil die FDP die Jamaika-Sondierungen beendete.

“Teamplay in der Führung wird einen neuen Stellenwert bekommen”, kündigte Nahles damals an. Das war nicht nur ein Versprechen, sondern auch eine Ansage an die Platzhirschen ihrer Partei. Einige Monate später, nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen mit der Union, schloss Nahles den amtierenden Außenminister und für seine Alleingänge berüchtigten einstigen SPD-Chef Sigmar Gabriel von der Regierungsbildung aus mit den Worten, die SPD-Minister müssten als Team funktionieren.

NAHLES WAR ZUNÄCHST AUF NOGROKO-KURS

Bei Facebook sprach Nahles schon am Wahlabend von einer “großen Niederlage” ihrer SPD, die bei der Bundestagswahl mit 20,5 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis der Nachkriegszeit einfuhr. Sie legte sich auf Opposition fest, wie die gesamte Parteiführung. “Wir brauchen einen programmatischen und organisatorischen Neuanfang”, schrieb sie. “Für die SPD besteht bei dem Wahlergebnis überhaupt kein Anlass, über eine Weiterführung der GroKo nachzudenken.”

Nach dem Abbruch der Jamaika-Sondierungen vollzog Nahles eine Kehrtwende und warb dafür, die Chancen einer großen Koalition auszuloten. Dass ein Parteitag zunächst für Sondierungen und ein Sonderparteitag dann auch grünes Licht für Koalitionsverhandlungen gaben, ist auch kämpferischen Reden von Nahles zu verdanken, während Parteichef Schulz blass blieb.

Nahles war Mitte der 90er-Jahre streitbare Juso-Chefin, brachte 2005 eher ungewollt Parteichef Franz Müntefering zu Fall, stieg zur Vize-Parteichefin auf und richtete nach dem Wahldebakel 2009 als Generalsekretärin mit Gabriel die Partei wieder auf. Wenige dürften in der SPD über ein so engmaschiges Netz an Kontakten verfügen. Nach der Bundestagswahl 2013 zog sie sich als frisch gekürte Arbeitsministerin aus der vordersten Linie der Parteiarbeit zurück. Über die SPD hinaus erwarb sie sich Anerkennung selbst bei CDU-Fraktionschef Volker Kauder und Innenminister Thomas de Maiziere, die ihr Verhandlungsgeschick, ihre Fähigkeit zur Kompromisssuche und ihre Sachkenntnis lobten.

In der SPD wird sie mit Kernprojekten wie dem Mindestlohn und der Rente mit 63 verbunden – obwohl letzteres vor allem ein Anliegen des damaligen Parteichefs Gabriel war. Zu den Gewerkschaften hat sie einen engen Draht. Der half, Forderungen der Gewerkschaften nach einem Rentenniveau von 50 Prozent zu dämpfen. Nahles schlug in der Regierung zunächst 46 Prozent vor, für das Wahlprogramm der SPD durften es dann 48 Prozent sein. Das setzte sie dann auch im Koalitionsvertrag durch.

In der Öffentlichkeit wird die Berufspolitikerin, die Politik und Germanistik studierte, bisweilen als verbissen wahrgenommen, bei anderen Gelegenheiten als überdreht, etwa wenn sie im Bundestag Pippi Langstrumpf singt oder beim Abschied aus dem Kabinett den Unions-Ministern gutgelaunt mit auf den Weg gibt, sie bekämen von ihr als Oppitionsführerin “in die Fresse”. In ihrer näheren Umgebung gilt Nahles als Frohnatur mit Witz und Schlagfertigkeit. Um Kraftausdrücke ist die Tochter eines Maurers nicht verlegen. Den damaligen Kanzler Gerhard Schröder bezeichnete sie bei der Agenda-2010-Reform als “Abrissbirne der sozialdemokratischen Programmatik”. Über dessen Lob beim SPD-Parteitag im März 2017 freute sie sich aber: “Ich hatte nicht immer erwartet, dass Du das so doll machen würdest”, attestierte Schröder der Arbeitsministerin mit rauem Charme.

Welche weiteren Karriereschritte Nahles vor sich hat, lässt sie selber offen. Nach der dritten verlorenen Bundestagswahl in Folge ist in der SPD vielerorts die Rede davon, dass 2021 nicht erneut ein Kanzlerkandidat von einer einzelnen Person oder einem kleinen Kreis nach der Popularität ausgerufen werden dürfe. Das sei dreimal schiefgegangen. Als Parteichefin hätte Nahles das Vorschlagsrecht. In ihrer Abitur-Zeitung gab sie 1989 als Berufswunsch an: “Hausfrau oder Bundeskanzlerin”.

“ICH GLAUBE, ICH KANN’S”

Zunächst muss Nahles auf dem Parteitag aber ihre einzige Gegenkandidatin besiegen, die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange, die als chancenlos gilt, aber einen Teil der Gegner einer großen Koalition für sich gewinnen könnte. “Also ich merke schon, dass die Spannung, die innere, so langsam bei mir ansteigt”, räumt Nahles ein. “Ich merke, dass ich immer wieder überlege, was sage ich, auch wenn ich abends versuche einzuschlafen. Was könnte ich sagen? Was kommt auch richtig rüber? Womit kann ich die Menschen auch erreichen?”

Nahles bekennt, sie habe in den vergangenen Wochen viel über ihre fast 30 Jahre in der SPD nachgedacht. Da seien ihr “teilweise lustige Sachen eingefallen und teilweise weniger lustige Sachen”. Es sei eine lange Strecke gewesen, durch die sich Nahles gewappnet sieht für den Parteivorsitz: “Ich glaube, ich kann’s.” Die Aufgabe sei “groß, aber ich habe mich auch lange irgendwie vorbereiten können auf die Aufgabe”.

 

Foto: REUTERS/Fabrizio Bensch

 

[metaslider id=20815]

More From Author

+ There are no comments

Add yours

Wir freuen uns über Kommentare